Ende des 19. Jahrhunderts kannte kaum ein Forscher die Arktis so gut wie Adolf Erik Nordenskiöld. Der finnisch-schwedische Entdecker war 1879 der erste, dem mit dem Schiff Vega eine vollständige Durchquerung der Nordostpassage gelang. Auf seinen Reisen nach Grönland, die er bereits mehrere Jahre davor unternahm, fiel ihm ein eigenartiges Phänomen auf. An vielen Orten sah hier das Eis nicht so aus, wie man es erwarten würde. Es hatte eine dunkle, aus seiner Sicht graue Färbung. Anfangs dachte Nordenskiöld an Staubpartikel aus dem Weltraum, die hier herabregnen. Doch unter dem Mikroskop entdeckte er, dass es sich um Mikroorganismen, lebende Zellen handelt. Er hatte Algen entdeckt, die in riesigen Kolonien auf dem Eis leben und es verfärben.

Nordenskiölds Erkenntnis, die er 1875 in seinem Tagebuch beschrieb, fand kaum Beachtung. "Lange Zeit glaubten die Menschen, dass Gletscher und Eisschilde gar kein Leben beherbergen können und biologisch inaktiv seien. Doch das ist nicht der Fall. Es existiert ein reichhaltiges Ökosystem auf den Eisflächen", erklärt Joseph Cook, Mikrobiologe und Gletscherforscher an der University of Sheffield in Großbritannien. "Auch die 1875 beschriebene Entdeckung blieb nahezu eineinhalb Jahrhunderte vergessen." Doch die Klimakatastrophe hat dem Phänomen nun zu neuer Aktualität verholfen. Denn die Algenblüte auf den Eisschilden hat globale Folgen. Und diesen ist Joseph Cook auf der Spur.

Zwanzigste Expedition

Der 1986 geborene Mikrobiologe und Gletscherforscher kommt gerade von seiner – sage und schreibe – zwanzigsten Arktisexpedition zurück. Diesmal ging es in den Süden Grönlands, nicht weit weg von der Ortschaft Narsarsuaq. "Heuer war die Algenblüte hier sehr spät. Generell sind die Algenhotspots eher im mittleren Westen der Insel zu finden", erklärt Cook, der vermutet, dass der Abstand zur Küste, Witterung und Regen sowie die Steilheit des eisigen Untergrunds maßgebliche Einflussgeber für ihre Häufung sind.

Zwanzig Mal war Joseph Cook bereits in der Arktis. Es werden weitere Trips folgen.
Foto: Joseph Cook / Rolex

Die Eisökosysteme werden von nur zwei Algenspezies dominiert, die nur in dieser Umgebung vorkommen. "Die Mikroorganismen produzieren in ihrem Inneren ein spezielles Pigment, das als natürlicher Sonnenschutz dient", betont der Forscher. "Dieses Pigment hat eine dunkle, lila bis braune Farbe und ist dafür verantwortlich, dass sich mit der Algenblüte im Frühling das Eis verdunkelt." Doch die Färbung schützt nicht nur die Algen vor der Sonne, sie verringert auch den Albedoeffekt, also das Rückstrahlvermögen der Oberfläche. Das Eis schmilzt also schneller.

Im Kontext des Klimawandels ist das eine wichtige Information. Die Arktis erwärmt sich überproportional. Hunderte Milliarden Tonnen Eis schmelzen Jahr für Jahr ab. Und es scheint, dass die Algen einen Teil dazu beitragen. Die Warmphasen, in denen ein für die Algen günstiger Wasserfilm auf dem Eis entsteht, werden länger und häufiger. Das zusätzlich abschmelzende Eis setzt auch mehr gespeicherte Nährstoffe frei, was das Algenwachstum noch stärker antreibt. Es entsteht ein selbstverstärkender Mechanismus, der letztendlich darauf Einfluss nimmt, wie schnell die Eiskappen verschwinden und wie schnell der Meeresspiegel dadurch ansteigt.

Die Algenblüte verringert das Rückstrahlvermögen der Oberfläche und führt so zur schnelleren Schmelze des Eises.
Foto: Joseph Cook / Rolex

Doch in welchem Ausmaß verstärken die Algen die Klimawandelfolgen? Diese Frage möchte Cook durch seine Forschungsarbeit beantworten. Die Beobachtungen zur arktischen Algenblüte sollen systematisiert und in Zahlen gegossen werden, sodass die Daten in die Modellrechnungen der Erderwärmung miteinbezogen werden können.

Klimawandelmodelle

Die Vorhersagen dieser Modelle werden sich dadurch ändern, ist Cook überzeugt. Aus der Beobachtung geschlossen, könnte der verminderte Albedoeffekt in einer Größenordnung von etwa zehn Prozent für die Eisschmelze verantwortlich sein, schätzt Cook. Genaue und wissenschaftlich fundierte Werte werden aber erst nach Abschluss der Untersuchungen vorliegen.

Für Cook teilt sich die Forschungsaufgabe in drei Phasen: Die erste Aufgabe war zu bestätigen, dass die Algen tatsächlich im Eis wachsen und das Rückstrahlvermögen reduzieren. Die zweite Phase – in der Cook und sein Team gerade mittendrin stecken – dreht sich darum, diese Wirkung sowie den Einfluss auf die Abschmelzrate in Zahlen zu gießen. In der letzten Phase wird schließlich danach gefragt, wie die Effekte über das ganze arktische Eisschild hinweg aussehen und welche Folgen für den Meeresspiegelanstieg zu erwarten sind.

Um diese Ziele zu erreichen, setzen die Forscher eigens entwickelte Messtechniken ein. "Bei der Expedition im Juli hatte ich erstmals ein dreiköpfiges Team zur Verfügung. Damit ist auch ein ausgeklügelter Einsatz spezieller Messtechniken möglich geworden", erzählt Cook. Ein Teammitglied ist dabei ganz auf Flüge mit Drohnen spezialisiert. Sie wurden mit Kameras ausgestattet, die ein hohes Lichtspektrum von Infrarot bis Ultraviolett erfassen und die Rückstrahleigenschaften der Algen genau dokumentieren. Gleichzeitig werden die Drohnendaten vom Boden aus per Spektrometer validiert und Proben genommen, um die Eigenschaften des Eises und die Zahl der vorhandenen Algen zu eruieren. Für die auf ganz Grönland bezogenen Auswertungen werde man schließlich auf Satellitendaten zurückgreifen.

Probenentnahme.
Foto: Joseph Cook / Rolex

Dass sich Cook einmal ganz der Lebenswelt der Pole widmet, kommt nicht von ungefähr. "Ich war früher begeisterter Kletterer und habe schon als Heranwachsender sehr viel Zeit in der Natur verbracht", blickt der Forscher zurück. Ihn faszinierten wilde Landschaften, aber auch die Wissenschaft vom Leben und die Frage, wie es von seiner Umwelt geprägt wird. All diese Interessen führt er nun in seiner wissenschaftlichen Spezialisierung auf das arktische Eis zusammen.

Aufklärungsarbeit

Cook erkennt durch seine Forschungen, wie mikroskopische Organismen in der Arktis letztendlich das Leben auf der ganzen Erde beeinflussen. Das Wissen um die Gefahren des Klimawandels zu den Menschen zu bringen ist dabei manchmal gleich schwierig wie die wissenschaftliche Arbeit. "Das Publizieren in wissenschaftlichen Fachzeitschriften hat einen begrenzten Einfluss", bedauert Cook. "Ich möchte deshalb Wege finden, ein breites Publikum zu erreichen." Gemeinsam mit der Uhrenmarke Rolex, die ihm vor einigen Jahren einen Preis für Unternehmergeist verlieh, hat er Dokumentationen gedreht. Er kooperiert mit Musikern und Schriftstellern, die wissenschaftliche Daten in eine Welt von Emotion und Ästhetik überführen.

Bleibt die Frage: Was ist eigentlich mit der Antarktis? Spielen die Algen dort auch eine Rolle? "Im Moment scheint es ein Phänomen zu sein, das hauptsächlich in der nördlichen Hemisphäre zu finden ist", sagt der Forscher. Doch mit der globalen Erwärmung könnten die Algen auch dort Fuß fassen. Cook: "Das Grönland von heute könnte uns zeigen, wie die Antarktis in 20 oder 30 Jahren aussieht. Doch bis jetzt ist das nur eine Hypothese, die es noch zu beweisen gilt." (Alois Pumhösel, 10.9.2021)