Lehm und Kreide kosten: "The Museum of Edible Earth" ist ein disziplinübergreifendes Projekt, das Proben essbarer Erde sammelt und ausstellt.

Foto: vog-photo / Florian Voggeneder

Ein strahlender Tag in Linz. Echter Sonnenschein, kein Virtual Light. An den Science-Fiction-Roman mit diesem Titel von William Gibson – Erfinder des Begriffs "Cyberspace" – werden sich etliche Aficionadas und Aficionados der Ars Electronica noch erinnern. Das Linzer Cyber-Festival hat gerade seine aktuelle Ausgabe eröffnet und will sich auch diesmal als Motor des Diskurses über unser digitales Zeitalter beweisen.

Wer bereits am Mittwoch zur Preview-Safari angereist war, konnte sich am Vormittag auf den Campus der Johannes-Kepler-Universität (JKU) begeben, den das Festival bis Sonntag gekapert hat. Schon da wurde klar: Ob Klimawandel, Pandemie oder Netzkrieg, die Ars lässt keinen Katzenjammer aufkommen.

Gegen das Monster

Das Stimmungsbarometer steht auf Anpacken, denn es gibt etwas zu retten: einen Planeten und das Image einer Technologie, die einst auf die Revolution von allem und das Paradies auf Erden hoffen ließ. Eines ist erledigt: Ohne Computer geht fast überall beinahe gar nichts mehr. Nur mit dem Paradies hapert’s noch: Die Zukunft der Generation X wird zur Herausforderung, man nutzt das stromfressende Monster namens Internet zunehmend zur Desinformation, und in den sozialen Medien passiert so einiges, das uns zum Teil das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Da muss gegengesteuert werden, und die Diskursmaschine Ars Electronica präsentiert – nach der Forderung etwa nach einem "digitalen Humanismus" 2019 – auch diesmal wieder Pläne dafür: Erstens muss ein "New Digital Deal" her, und zweitens braucht es ein bildungspolitisches Einschwenken auf die globale digitale Flugbahn. Deswegen probiert das Festival zusammen mit der JKU eine "Festival-Universität" mit 100 internationalen Probe-Studierenden aus.

Hinter dem Pilotprojekt steht der Plan, die oberösterreichische Hauptstadt als Standort für eine neue technische "Universität des 21. Jahrhunderts" zu etablieren. Die Studis des Initialprojekts sollen zusammen mit etlichen sie inspirierenden Köpfen aus Wissenschaft und Management, Kunst und Aktivismus (wie der Sozialforscherin Francesca Bria, dem Genetiker Josef Penninger oder der Unternehmerin Leanne Kemp) erarbeiten, was die neue TU erforschen und lehren könnte.

Überwältigung des Publikums

Wieder ist die kuratorische und kommunikative Strategie der Ars eine Überwältigung des Publikums durch ein überbordendes Angebot – live und online – an Ausstellungen, Panels, Konferenzen und so weiter mitsamt Anbindung an Wirtschaft, Forschung und Kunst plus Verbindungen zu Partnern in aller Welt, die sich im Netz präsentieren. Der Wermutstropfen dabei, wie auch schon bei früheren Ausgaben: Niemand scheint sich um die zugegeben undankbare Auswertung der generierten Inhalte zu kümmern.

Es ist eben ein Festival, und im Zentrum von Festivals steht das Feiern von Erlebnissen. Immerhin hat sich die JKU ein Maskottchen zugelegt, das wie ein kopfloser mechanischer Hund wirkt. Der grazil tänzelnde Roboter heißt Magic Eye, weil sein Radarsensorium an der Kepler-Uni weiterentwickelt wurde (u. a. von Andreas Stelzer, Andreas Müller).

Zwei Ausstellungen warten in den Campusgebäuden: Die Schau des Linz Institute of Technology zeigt unter anderem, wie Bakterien zum umweltschonenden Färben von Stoffen eingesetzt werden können. Und eher in Richtung Kunst geht die Themenausstellung des Festivals Digital && Life. Darin fällt eine kleine Anordnung von iPads auf (Joe Davis, Sarah Khan), die Baitul Ma’mur: House of Angels heißt und durch ihren Anspruch, "2417 Quintillionen Engel auf einem Stecknadelkopf zu speichern", besticht. Weniger darf’s nicht sein: Eine Quintillion ist ein Zehner mit 30 angehängten Nullen.

Das Problem mit Daten

In dem vor Betriebsamkeit summenden Gebäude des Ars Electronica Center fallen die Schau There Is No Planet B über die Erderwärmung und menschliche Verantwortung auf sowie eine etwas versteckte Statistik über Datenlecks und -hacks: Facebook glänzt da mit 533 Millionen Fällen, Yahoo mit 500 Millionen oder Twitter mit 330 Millionen.

In der Cyberarts-Präsentation der Prix-Ars-Electronica-Gewinnerprojekte im Entree des Oberösterreichischen Kulturquartiers zeigt das niederländische Künstlerduo L.A. Raeven mit Vastum die wohl faszinierendste Arbeit des Festivals: eine große weiße Box, in die auf Kniehöhe eine Art Türspion eingelassen ist.

Kniet man sich hin und blickt hindurch, lässt sich die Computeranimation eines elfjährigen Mädchens beobachten, das an vorzeitiger Alterung leidet. Die Figur in ihrer Zelle wurde mit Bewegungen einer Laborratte animiert. Vastum ist als Kritik an jenem Zweig der Genforschung gedacht, von dem Reiche profitieren und als dessen Folge Arme aussortiert werden könnten. (Helmut Ploebst, 9.9.2021)