Schallenberg sieht in Österreichs ablehnender Haltung zur Aufnahme gefährdeter Flüchtlinge aus Afghanistan kein Reputationsproblem für das Land.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Wie viele Österreicher und Österreicherinnen oder Menschen mit Aufenthaltstitel wollen noch aus Afghanistan ausreisen?

Schallenberg: Wir haben bisher 182 Menschen sicher außer Landes gebracht. Die Bemühungen gehen unvermindert über die Landwege weiter. In den letzten Tagen wurden beispielsweise über Pakistan mehrere Dutzend Personen herausgebracht. Es ist aber auffällig, dass es nun vermehrt Personen gibt, denen wir zwar Visa für die Nachbarstaaten verschafft haben, die sich aber entscheiden, vorerst nicht auszureisen und in Afghanistan abzuwarten. Es scheint also, dass die Phase, in der man aus Angst so schnell wie möglich das Land verlassen wollte, nun für manche vorbei ist. Einige Dutzend sind aber weiter auf der Evakuierungsliste, und unsere Krisenteams in der Region tun weiterhin alles in ihrer Macht Stehende, um den Menschen zu helfen.

STANDARD: Die deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, hatte laut einem "Spiegel"-Bericht schon am 6. August und damit fast eineinhalb Wochen vor dem Fall Kabuls vor einem drohenden Kollaps der afghanischen Regierung gewarnt. Wusste Österreich davon?

Schallenberg: Nein. Ich kann die Situation in Deutschland auch nicht bewerten. Es gibt jedenfalls noch viele offene Fragen: Wie kann es sein, dass noch wenige Tage vor dem Fall von Kabul die politischen Führungskräfte weltweit so viele falsche Informationen hatten? Das alles hat zu einem internationalen multiplen Organversagen geführt. Ich bin gespannt, ob sich das irgendwann klarer darstellt.

STANDARD: Die EU-Außenminister haben sich vergangene Woche auf eine Linie im Umgang mit den Taliban geeinigt. Die Taliban-Regierungsbesetzung ist nun bekannt. Was sagen Sie?

Schallenberg: Die Taliban scheinen sich zu organisieren. Es ist jedenfalls besorgniserregend, wenn man das Gefühl hat, dass die Taliban bereits bei der ersten Weggabelung falsch abbiegen. Von einer inklusiven Regierung kann hier nicht die Rede sein. Wir als Europäische Union haben betont, dass wir den Respekt der Grund- und Freiheitsrechte und der internationalen Verpflichtungen fordern, insbesondere was den humanitären Zugang betriff. Es gibt aber einen Misstrauensvorschuss, und die Taliban stehen unter Beobachtung.

STANDARD: Wie lange soll man sich das anschauen, wann nimmt man offiziell Kontakt auf?

Schallenberg: Inoffizielle Kontakte finden und fanden natürlich statt. Wir haben uns in der EU auf eine klare Marschrichtung geeinigt. Es gibt keinen Blankoscheck und auch keinen fixen Zeitpunkt für offizielle Kontakte. Als EU werden wir weiterhin mit internationalen Organisationen vor Ort zusammenarbeiten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes war ständig dort, UNHCR ist vor Ort. Die Uno kehrt langsam zurück. Die Hilfsorganisationen waren ja schon in der Vergangenheit in von Taliban kontrollierten Gebieten tätig. Österreich hat rasch ein umfangreiches Hilfspaket von 18 Millionen Euro für Hilfe vor Ort geschnürt.

STANDARD: Das Bekenntnis zu Hilfe vor Ort gibt es von allen Staaten. Warum nimmt Österreich nicht zusätzlich eine kleine Anzahl an besonders gefährdeten Menschen kontrolliert über das Resettlementprogramm der EU auf? Ist der Imageschaden nicht mittlerweile größer als die Belastung für Österreich?

Schallenberg: Kritik habe ich in meinen Gesprächen mit internationalen Partnern nicht wahrgenommen.

STANDARD: Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn rief zum Beispiel zu Widerstand gegen Österreich auf und warf Österreich vor, die Qualität zu verlieren, Europäer zu sein.

Schallenberg: Der luxemburgische Außenminister sollte zuerst sechsmal so viele Menschen aus Afghanistan aufnehmen, wie bisher in Luxemburg aufgenommen wurden, dann können wir auf Augenhöhe sprechen. Viele Staaten machen dasselbe wie wir. Würden Staaten wie Italien, Deutschland oder Frankreich denselben Anteil an afghanischen Staatsbürgern aufnehmen, wie wir ihn haben, müssen sie jeweils zwischen 270.000 und 320.000 Menschen aufnehmen. Das Wesentliche ist Helfen vor Ort und Stabilisieren in der Region. Das machen wir.

STANDARD: Die Uno berichtet von schweren Menschenrechtsverletzungen wie Hinrichtungen.

Schallenberg: Diese Berichte sind alarmierend. Das eine ist, was die Taliban in Katar sagen, das andere, was wirklich geschieht. (In Katar finden die internationalen Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation statt, Anm.) Wenn wir die Taliban beim Wort nehmen, sollten sie den Uno-Vertretern ungehinderten Zugang ermöglichen. Der Informationsfluss ist aber noch sehr überschaubar, es gibt nicht überall internationale Präsenz. Es stellt sich auch die Frage der Kommandostruktur: Also wer gehört alles tatsächlich zu den Taliban, und wo versuchen Verbrecherbanden, die Macht zu übernehmen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 10.9.2021)