José Montalvo dagegen setzt in "Gloria" auf die Wirkung des Leichtsinns.

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Was mit der Liebe geschieht, wenn sich Machtgier über sie hermacht, zeigt die "Schwanensee"-Interpretation von Angelin Preljocaj.
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Stoff für Neugierige und Genussfreudige, für Nachdenkliche und für jene, denen die Verunsicherungen dieser Tage sehr nahegehen, hat das Tanzprogramm der 25. Saison im Festspielhaus St. Pölten auf Lager. Darunter sind Stücke, die überraschen und mitreißen, aber auch das Potenzial haben, ihr Publikum in jene Bereiche der Wirklichkeit zu führen, die den dunklen Räumen unseres Unbewussten sehr nahekommen.

Wie zum Beispiel der Ballettklassiker Schwanensee mit seiner langen Vorgeschichte. Wie dem sogenannten Codex regius aus dem späten 13. Jahrhundert zu entnehmen ist, tauchen in einem der darin niedergeschriebenen Edda-Lieder mythische Frauenwesen auf, die als Walküren bezeichnet werden. Eine von diesen trägt Schwanenfedern und daher den Beinamen Svanhvít.

Bis heute fasziniert Schwanensee, dessen Musik von Peter Iljitsch Tschaikowsky stammt, unter anderem auch deshalb, weil das Stück ein mit übernatürlicher Kraft assoziiertes archaisches Prinzip des Hybrids thematisiert. Kern der Handlung ist eine Doppelgestalt: Odette und Odile. Sie wird von zwei gegensätzlichen Einflüssen bestimmt: einmal von der Figur des Getäuschten (Prinz Siegfried) und zum Zweiten von dem Täuscher (personifiziert als Zauberer Rothbart).

Die Liebe und der Täuscher

Im Vorjahr wollte das Festspielhaus Martin Schläpfers Schwanensee aufführen, doch die Pandemie hat’s verhindert. Eineinhalb Jahre später beginnt Intendantin Brigitte Fürles letzte Saison mit Angelin Preljocajs Le lac des cygnes. Wie Schläpfer – der heute das Wiener Staatsballett leitet – hat auch der renommierte Franzose das Stück neu choreografiert. Er baut auf Marius Petipas Fassung von 1885, die allen heute als "historische" Interpretationen geltenden Aufführungen zugrunde liegt.

Auch bei ihm wird Odette-Odile von ein und derselben Tänzerin – etwa Théa Martin – verkörpert. Die Bedeutung dieser Metapher kann so verstanden werden: Jeder oder jede Liebende (Odette) trägt einen destruktiven Doppelgänger (Odile) in sich, und jedes Begehren (Siegfried) kann auf die Anziehungskraft dieses Doubles hereinfallen.

Preljocaj verbindet den dunklen Glanz des machtgierigen Verführers Rothbart und seines Mediums Odile mit den allzu oft finsteren Machenschaften heutiger Manager.

Diese Machenschaften sind zur Grundlage der Globalisierung geworden und bedrohen mittlerweile den gesamten Planeten. Die vielgelobte südkoreanische Choreografin Eun-Me Ahn nimmt in ihrem modernen Tanz Dragon asiatische Deutungen des oft ebenfalls hybriden mythischen Drachenwesens als Metapher für die Aussichten der sogenannten Generation Z.

Boomer und Asien-Verbindung

Wer um das Jahr 2000 geboren ist, sagt sie, kann an den schillernden Zukunftsvisionen, wie sie im 20. Jahrhundert üblich waren, nicht mehr teilhaben. Weil die Generation der "Boomer" auf die Blendwerke der Rothbarts ihrer und unserer Zeit hereingefallen ist. Die Folgen: Herrschaft der Technologie und kulturelle Homogenisierung.

In gefühlvollen Bildern stellt Ahn dar, was das mit der in unterschiedlichen asiatischen Ländern geborenen jungen Generation macht.

Eine weitere Asien-Verbindung: Der belgische Choreograf Damien Jalet hat sein neues Stück Planet [wanderer] zusammen mit dem japanischen Künstler Kohei Nawa entwickelt. Zwischen Mythologie und Wissenschaft finden die beiden die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Menschen und jenem Planeten, mit dem er verbunden ist.

Ebenfalls in Form von Kooperationen ist ein Doppelabend entstanden, den die legendäre afrikanische Tanzkoryphäe Germaine Acogny nach St. Pölten bringt.

Mit Witz und Zuversicht

Einmal indirekt in Form ihrer ganz besonderen Ausleuchtung von Pina Bauschs Das Frühlingsopfer von 1975. Dieses Stück war eine Antwort auf den Ballettklassiker Le sacre du printemps, mit dem die Ballets Russes 1913 in Paris einen Skandal auslösten. Und zum anderen ganz direkt mit Malou Airaudo, einer ehemaligen Tänzerin von Bauschs Tanztheater Wuppertal: common ground[s] zeigt Acogny und Airaudo in einem sensiblen Duett.

Ganz abseits von jeglicher Tragik schließlich hält sich der Franzose José Montalvo. Dessen Gloria ist ganz auf all das Positive ausgerichtet, das aus dem Zusammentreffen der Vielfalt unserer Zeit gewonnen werden kann. Auch diese Position ist wichtig. Denn ohne Mut, Witz und Zuversicht ihrer Gegenspieler könnten die Rothbarts unter uns alles in den Abgrund reißen, was es an Leben auf der Erde gibt. (ploe)

Schwerkraft? Ein Mythos. Artisten aus Adelaide zeigen Rückgrat.
Foto: Joe Kusumoto

Wird der Zirkus zum neuen Tanz?

Zwei große Auftritte der australischen Company Gravity & Other Myths

St. Pölten – Während sich der freie Tanz gerade weit aus der Choreografie hinaus in Richtung narzisstischer Performance lehnt, stößt die Kunst der virtuosen Bewegung heute auf neue Terrains vor.

Möglich wird das über eine Neuerforschung der Tanzgeschichte. Aber auch auf einem Terrain, mit dem der Tanz einst nichts zu tun haben wollte: dem einer Zirkuskunst, die vom Cirque Nouveau stammt, der sich im späten des 20. Jahrhundert entwickelt hat.

Das Festspielhaus hat vor geraumer Zeit die Aufgabe übernommen, sein Publikum in die erstaunlichen Choreografien des Zirkus einzuführen. Das Besondere dabei: Es geht nicht mehr nur um das Vorzeigen aberwitziger Akrobatenstücke, sondern um poetische Erkundungen und Höchstleistungen in der Zusammenarbeit genialer Artisten.

Ein Musterbeispiel dafür ist die Company Gravity & Other Myths aus dem australischen Adelaide, die nun mit gleich zwei Abenden in St. Pölten gastiert.

Einerseits wird die vorigen Herbst infolge der Pandemie abgesagte Arbeit A Simple Space nachgeholt, und zusätzlich zeigt das Festspielhaus die bisher größte Produktion der Gruppe: Backbone mit Livemusik. (ploe)

Von Luft und Liedern

Zwei Auftragsarbeiten des Festspielhauses

St. Pölten – Mittlerweile hat sich’s herumgesprochen: Wir stehen an einem Punkt, an dem nur noch massive, gemeinsame Anstrengung den ökologischen Zusammenbruch mit allen Folgen verhindern oder zumindest bremsen kann.

In diesem Zusammenhang präsentiert das Festspielhaus als gemeinsame Kuratierung mit der Mahler Foundation die Auftragsarbeit und Uraufführung von Das Lied von der Erde / Song of Le Moana.

Darin fragt der international tätige, aus Samoa stammende Regisseur Lemi Ponifasio – mit seiner MAU Company, Sängerinnen und Sängern aus Europa und Ozeanien sowie dem Tonkünstler-Orchester unter Hans Graf – danach, was uns Gustav Mahlers Werk in unserer schwierigen Situation erzählt.

Womöglich helfen könnte etwas mehr Liebe für den Planeten. Dieses Gefühl jedenfalls untersuchen Kunstpfeifer Nikolaus Habjan und Autor Paulus Hochgatterer zusammen mit den Tonkünstlern in dem Abend Von Luft und Liebe – eine Opernverführung, ebenfalls eine Festspielhaus-Eigenproduktion.

Habjan pfeift die großen Arien von Mozart, Puccini, Händel, Rossini, Beethoven und Verdi. Und über die ganz großen Gefühle. (hein, 16.9.2021)