Frank Castorf (Mitte) mustert Irina Kastrinldis’ "Schwarzes Meer".

Foto: Thomas Aurin

Nicolas Stemann küsst seinen "Faust I" wach.

Foto: Zoe Aubry
Der Familientisch in Luk Percevals "Yellow – The Sorrows of Belgium II: Rex".
Foto: Fred Debrock

Eine flämische Familie begeistert sich in den 1930er-Jahren für den Nationalsozialismus. Einzig der Bruder des Vaters bezieht Gegenposition. Er versteckt eine aus Wien geflohene Jüdin. Und während der belgische Faschistenführer Léon Degrelle Reden abhält, werden am Küchentisch Briefe von der Ostfront vorgelesen.

Diese Konstellation, die faschistischen Zusammenwüchse in Europa bis ins Spanien Francos vermessend, untersucht der flämische Regisseur Luk Perceval in Yellow – The Sorrows of Belgium II: Rex. Anfang Oktober feiert die Koproduktion des Landestheaters mit dem Niederländischen Theater Gent und dem Theater Manège Maubeuge seine Uraufführung in St. Pölten.

Schon vergangenen März wurde eine Filmversion des auf Brieftexten basierenden Theaterabends online präsentiert – und faszinierte in entrücktem Schwarz-Weiß.

Österreich und Belgien

Perceval, einer der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart, überprüft in diesem zweiten Teil seiner The Sorrows of Belgium-Trilogie biografische und geografische Implikationen der flämischen Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Philip Leonhard Kelz, Ensemblemitglied des Landestheaters, fügt sich in das Gastensemble aus Gent und verbindet mit der Rolle des SS-Obersturmbannführers Otto Skorenzy die verdrängten Geschichten Belgiens mit jenen Österreichs.

Nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Internierungslager geflüchtet, tauchte Skorenzy ab 1950 in Madrid wieder auf und knüpfte engen Kontakt mit dem sich ebenfalls der Verurteilung entziehenden Degrelle. Am Landestheater fügen sich die historischen Bezüge zu einem ebenso behutsamen wie monumentalen Bühnenereignis.

Auch eine weitere Uraufführung verspricht ein überregionales Ereignis zu werden: Frank Castorf, Ex-Intendant der Berliner Volksbühne und Regisseur an den renommiertesten Häusern des deutschsprachigen Raums, zeichnet verantwortlich für die Uraufführung eines Textes von Irina Kastrinidis. Mit Schwarzes Meer geht die griechisch-schweizerische Schauspielerin und Autorin der Ermordung von Pontosgriechen im Griechisch-Türkischen Krieg der 1920er-Jahre nach.

Abstrakte Geschichtsschreibung

Der vielstimmige Erzählfluss verwebt antike Odysseen mit zeitgenössischen Exilbiografien und widerspiegelt Verwerfungen gesamteuropäischen Ausmaßes in der Suche einer jungen Frau nach den Spuren ihrer Herkunft. Castorf, nicht gerade für seine Texttreue berühmt, besorgt die Inszenierung in bekannter Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Aleksandar Denić. Und Mikis Kastrinidis, der 2009 geborene Sohn von Autorin und Regisseur, wird als Gastschauspieler auf der Bühne stehen.

Mit Yellow – The Sorrows of Belgium II: Rex und Schwarzes Meer stehen zwei ästhetisch völlig unterschiedliche, jedoch inhaltlich miteinander verwandte Produktionen auf dem diesjährigen Spielplan des Landestheaters.

Wie sich die große Geschichte in den kleinen Geschichten niederschlägt, wird hier gefragt, oder grundsätzlicher: Wie funktioniert menschliches Leben inmitten abstrakter Geschichtsschreibung? Zudem werden beide Theaterabende jeweils von einem Regisseur mit Starnimbus inszeniert.

Womit wir bei einem weiteren Programmpunkt dieser Spielzeit wären – einer Arbeit von Nicolas Stemann, Dauergast beim Berliner Theatertreffen und seit 2019 zusammen mit Benjamin von Blomberg Co-Intendant des Schauspielhauses Zürich.

Unersättlicher Individualist

Bei Stemanns Faust I, zu sehen kommenden Dezember im Landestheater, handelt es sich um eine Inszenierung, die schon einmal als "superschlaues Theaterfest" erkannt wurde. Schon einmal? Nämlich 2011. Damals als Koproduktion zwischen den Salzburger Festspielen und dem Thalia-Theater Hamburg entstanden, wurde die nun neu überarbeitete Erfolgsproduktion ins Repertoire des Züricher Schauspielhauses übernommen und gastiert nun in St. Pölten.

Beginnend mit einem fulminanten Solo von Schauspieler Sebastian Rudolph, der nicht nur den Faust, sondern zunächst das ganze Goethe’sche Personal stemmt, entwickelt sich das Drama vom unersättlichen Universalgelehrten als Wahnsinn eines um sich selbst kreisenden Radikal-Individualisten.

Und spätestens dann, wenn Philipp Hochmair als Mephisto seine Zunge aus dem Mund streckt, wird klar, dass ein "Sei dein eigener Maßstab!" lauter Unterwerfung und Zerstörung in die Welt trägt. Der Faust, so brandaktuell wie immer. (tlg)

Die Puppen des Nikolaus Habjan haben das Publikum überzeugt.

Foto: Barbara Palffy

Kien, eine Herabwürdigung und späte Liebe

Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan in dreifacher Aktion

St. Pölten – Fans des Puppenspielers, Regisseurs und Kunstpfeifers Nikolaus Habjan kommen in dieser Spielzeit auf ihre Kosten. In einer Dramatisierung von Paulus Hochgatterer bringt Habjan Elias Canettis Die Blendung auf die Bühne – natürlich wie immer im Zusammenspiel von Ensemble und Puppen.

Das Werk, für das Canetti 1981 den Nobelpreis erhielt, entstand unter dem Eindruck des aufkommenden Nationalsozialismus und erzählt von Totalitarismus im Kleinen: Sinologe Peter Kien führt ein von Gefühlen und Zwischenmenschlichkeit weitgehend abgekoppeltes Leben in seiner 25.000 Bände umfassenden Bibliothek.

Seine Haushälterin Therese bringt diese Ordnung durcheinander – und es wird noch schlimmer. Ebenfalls mit der NS-Zeit setzt sich F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig auseinander, für das Habjan und Regisseur Simon Meusburger 2012 den Nestroy für die Beste Off-Produktion erhielten.

Zusammen mit Schauspielerin und Regisseurin Ruth Brauer-Kvam schließlich liest Nikolaus Habjan aus dem Erzählband Späte Liebe des polnisch-US-amerikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Isaac B. Singer. (hein,)

Die beste aller Welten

Familienprogramm nebst anderen Besonderheiten

St. Pölten – Was sind schon die Ghostbusters im Filmhit aus dem Jahr 1984 gegen Otfried Preußlers entzückendes Buch Das kleine Gespenst! Jetzt zeigt die in Ankara geborene Regisseurin Asli Kişlal ihre Version der Dramatisierung des Kinderbuchklassikers von 1966.

Darin wird das junge Publikum ermuntert, Mut und Klugheit zu zeigen. Geplant sind ab dem 23. Oktober zahlreiche Familien- und Schulvorstellungen im Großen Haus.

Schon ab 17. 9. zeigt Sara Ostertag den Youngsters aus St. Pölten und Umgebung, was es Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte … zu erfahren gibt: Wer hat ihm versehentlich auf den Kopf gemacht? Und was ist richtige Freundschaft? Ab dem 11. 11. entführt Nehle Dick in Das Städtchen Drumherum, wo sich die Bürgermeistersprösslinge Julius und Juliane gegen miese "Bäumeumschmeißer" ins Zeug legen.

Für die ganze Familie Die beste aller Welten sein: Die Schauspielerin Bettina Kerl trägt am 1. 10. – bei Schönwetter auf dem Rathausplatz – Texte etwa von Walter Benjamin und Franz Kafka über das tierische Leben in der Stadt vor.

Weiters wartet das Landestheater wieder mit Klassenzimmerstücken und, vielleicht nicht nur für Erwachsene, am 2. 10. mit einem Stadtspaziergang des Erinnerungsbüros auf. (ploe, 20.9.2021)