Filmstill aus "Ein Zimmer mit Aussicht im Finanzbezirk" (2001). Carola Dertnig: "In einer großen Stadt leben siamesische Zwillinge mit dem Namen Eins und Zwei….."
Foto: Carola Dertnig

"Es war kurz vor neun Uhr morgens, als mich mein Partner aus Österreich anrief. Ich wohnte in Williamsburg mit freier Sicht auf die Skyline von Manhattan und sah die Rauchwolken. Als ich den Fernseher aufdrehte, brannte der erste Turm des World Trade Center (WTC) auch dort. Offensichtlich. Und doch realisierte ich das nur in Etappen. Ich gehörte zu einer Gruppe von Künstlern, die für ein Artist-in-Residence-Programm ausgewählt worden waren; unser Großraumatelier befand sich im 91. Stock des Nordturms.

Sonderlich wohl fühlte ich mich dort wegen der Höhe nicht. In den Monaten zuvor hatte ich deshalb eher Ausflüge im Gebäude unternommen. Das Platzen der Dotcom-Blase sorgte für zahlreiche leerstehende Büros, die ich entdeckte und fotografisch dokumentierte (Ein Zimmer mit Aussicht im Finanzbezirk, Film 2001).

Zwischendurch beschäftigte mich der Zutritt zum Gebäude, denn es gab zu wenige Türen. Dazu hatte ich im Juli ein Slapstick-Video gedreht, mit mir als Performerin mit viel Gepäck (Revolving Door). Im Rückblick veränderte sich die Bedeutung dieses Stücks völlig.

Video "Revolving Door", Juli 2001
Carola Dertnig

Das WTC war ein interessanter, aber problematischer Ort. Im Zeichnungszyklus … but buildings can’t talk … behandelte ich die Geschichte und Nutzung der von mir personifizierten Twin Towers, die sich wegen ihrer Machtposition als Symbol des kapitalistischen Systems verunsichert fühlen (EVN-Sammlung, Künstlerbuch 2002). Eine Woche vor dem Attentat hatte ich diese Arbeiten mit nach Hause genommen. Zufall. Auch, dass ich an diesem Tag nicht im Gebäude war. Mein Kollege, der Bildhauer Michael Richardson, tragischerweise schon.

Die prägendste Erinnerung der ersten Stunden: tote Telefonleitungen, Gestank und hunderte Menschen, die von Manhattan zu Fuß über die Brücke nach Williamsburg strömten und mit Wasser begrüßt wurden." (Aufgezeichnet von Olga Kronsteiner, 11.9.2021)