Die harte Schale als künstlich zugelegter Part: Benedict Cumberbatch (vorne) begeistert in Jane Campions "The Power of the Dog" als Cowboy, der sich von einer Frau auf seinem Westernspielplatz bedroht fühlt.
Foto: Netflix

Ein gewissenloser Bürgermeister, der Killerbrigaden gegen seine Widersacher ausschickt; ein Journalist, der sein Arbeitsethos opportuner Ausgewogenheit in der Berichterstattung geopfert hat und erst langsam wieder seinen Gerechtigkeitssinn entdeckt. In On the Job: The Missing 8 vom philippinischen Genrespezialisten Erik Matti mündet diese Konstellation irgendwann in eine Autoverfolgungsjagd durch ein Maisfeld, in dem sich die Mörder und der Gejagte verirren. In Wahrheit kommen die beiden Wagen aber fast nebeneinander zu stehen – nur durch einige Meter mannshohe Pflanzen getrennt.

Mattis epischer Polit- und Medienthriller, der mit einer an Martin Scorsese erinnernden Verve die Verdorbenheit seines Landes unter dem Populisten Rodrigo Duterte behandelt, war einer der letzten Höhepunkte auf dem 78. Filmfestival von Venedig. Keine der Figuren hat eine saubere Weste, einige wenige quält immerhin ihr schlechtes Gewissen. Matti erzählt nicht nur von der Korrosion der Institutionen, sondern auch jener der Medienbilder: Selbst seriöse Medien hängen am Tropf eines korrupten Systems. Fakten haben gegen leichte Unterhaltung und Fake-News kein leichtes Spiel.

Höhere Sensibilität für Geschlechterrollen

On the Job: The Missing 8 entfaltet sich in dreieinhalb Stunden, der vom Quality-TV-Sender HBO mitproduzierte Film wurde Corona-bedingt zur Miniserie umkonzipiert. Dass man die Arbeit in Venedig in den Wettbewerb hievt, zeigt auch auf, wie sich die Rolle der Großfestivals als Plattform immer mehr diversifiziert. Im asiatischen Markt, sagt Matti, würden die Streamer als Substitut dienen. Sie ermöglichen ihm, schwierigere Themen in Angriff zu nehmen, für die woanders das Geld fehlt.

Zumindest in der dramaturgischen Ausrichtung blieb man am Lido der alten Linie treu. In der ersten Hälfte drängten sich die großen Regienamen dicht aneinander – Pedro Almodóvar, Jane Campion, Paul Schrader –, die dann gleich weiter auf die Festivals Toronto und New York wechselten. Die schon in Cannes verzeichnete Tendenz, Geschichten mit höherer Sensibilität für Geschlechterrollen zu erzählen, setzte sich hier mit Fokus auf widerspenstige Frauen fort.

Gleich zum Auftakt veredelte Almodóvars Madres paralelas die Repertoireidee von vertauschten Babys zum wendigen, zugleich meisterlich komponierten Film zwischen Thriller, Melodram und Komödie, in dem sich alles um die Herkunftssuche und Selbstbestimmung zweier Frauen aus zwei Generationen (Penélope Cruz und Milena Smit) dreht.

Größte Überraschung

Die größte Überraschung lieferte Maggie Gyllenhaal mit ihrem Regiedebüt The Lost Daughter. Nach einem Roman von Elena Ferrante changiert der Film kunstvoll zwischen zwei Lebensstadien einer Frau, die sich für eine Karriere als Literaturwissenschafterin entschieden hat. Ein Urlaub in Griechenland reaktiviert ihren inneren Konflikt um die eigene, ungeliebte Mutterrolle. Gyllenhaal spielt das souverän über die Bande. Sie folgt den störrischen Manövern von Leda (Olivia Colman), die gegen andere Strandgäste gerichtet sind: Trotzig verteidigt sie ihren Sonnenschirm gegen die Invasion einer Familie. Parallel dazu durchlebt man die Gefühlswirren ihres früheren Ichs (Jessie Buckley). Unabhängigkeit gibt es hier nicht ohne Egoismus.

Jane Campion hingegen demonstriert in ihrer Netflix-Produktion The Power of the Dog, einem der Favoriten für den Goldenen Löwen, wie man ein männlich kodiertes Genre wie den Western in einen nervösen Schwebezustand versetzt, in dem das Verhältnis der Figuren einen hohen Grad an Ambivalenz – und untergründige Spannung – erfährt. Benedict Cumberbatch verkörpert den unflätigen Cowboy, der sich durch die Frau (Kirsten Dunst) seines Bruders auf der eigenen Farm bedroht fühlt. Ihr queer wirkender Sohn (Kodi Smit-McPhee) wird zum Spielball dieses Machtkampfs, in dem Campion nicht zuletzt die Rolle des Westerners als eine misogyne Ersatzidentität entlarvt.

Auch leichte Festivalkost

Die zweite Festivalhälfte wurde von stärker gesellschaftspolitisch zugeschnittenen Filmen bestimmt, sei es Audrey Diwans Annie-Ernaux-Adaption L`événement über die Hürden einer illegalen Abtreibung im Frankreich von 1963 oder Jan P. Matuszyńskis Leave No Traces, der von der Ermordung des Studenten Grzegorz Przemyk im Polen von 1983 erzählt, die die Staatspolizei mit allen Mitteln der Drangsalierung unter den Teppich zu kehren versuchte. Linear und unterkühlt ist der eine Film, von dräuender Paranoia, aber auch theaterhaften Apparatschiks bestimmt der andere.

Als Gegenmittel zu solch schwerer und ein wenig absehbarer Festivalkost gab es Komödien. Competencia oficial von den Argentiniern Gastón Duprat und Mariano Cohn antwortet auf die Doppelmoral der Filmbranche mit den Mitteln ätzender Satire. Statt Darstellungspolitik zu verfeinern, wonach in Venedig viele Filme strebten, legt das Duo mit galligem Humor die Heuchelei und Eitelkeiten eines Schauspielerduos (Antonio Banderas und Oscar Martinez) und einer Regisseurin (Penélope Cruz) frei, die sich bei einem Probenprozess aberwitzig auszubooten versuchen. Am Ende gewinnen nur zwei davon Festivalpreise – es sei denn, in Venedig läuft es am Samstag anders. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 12.9.2021)