Im Gastkommentar widmet sich der Präsident des Council on Foreign Relations, Richard N. Haass, den Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September.

US-Präsident George W. Bush und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld am 12. September beim dritten Anschlagsziel, dem Pentagon.
Foto: AFP / Paul J. Richards

Viele fürchteten 2001, dass der 11. September eine vom globalen Terrorismus geprägte Ära eingeläutet hätte. Und wirklich folgten weitere Anschläge, darunter in Madrid, London und Brüssel. Doch weder die USA noch ihre Verbündeten erlebten einen weiteren Anschlag, der nur annähernd diese Größenordnung hatte.

Es gibt viele Erklärungen dafür, warum es den Terroristen nicht gelang, weitere große Anschläge zu verüben. Mit dem US-Einmarsch in Afghanistan verlor die Al-Kaida ihren Zufluchtsort. Nahezu alle Regierungen weltweit führten neue Kontrollverfahren ein, die Möchtegernterroristen den Zugang zu Flughäfen und Flugzeugen erschweren. Viele Länder haben ihre nachrichtendienstlichen, polizeilichen und militärischen Kapazitäten zur Risikominimierung und Bedrohungsabwehr drastisch ausgeweitet. Sie haben zudem ihre gegenseitige Zusammenarbeit verstärkt.

Eingedämmter Terrorismus

Auch herrscht inzwischen breite Übereinstimmung darüber, was Terrorismus ist: der Einsatz von Waffengewalt durch Einzelne und Gruppen gegen die Zivilbevölkerung zu politischen Zwecken; und es besteht ein gewisses Maß an Unterstützung für den Grundsatz, dass Regierungen nicht zwischen Terroristen und jenen, die ihnen Zuflucht und Unterstützung gewähren, unterscheiden sollten. Die Zeiten, in denen Einzelne und Gruppen, die im Namen ihrer Sache töten, als Freiheitskämpfer verklärt wurden, sind weitgehend vorbei.

Das soll nicht heißen, dass der Terrorismus nicht weiter jedes Jahr Zehntausende von Menschenleben fordert – was er mit Sicherheit tut. Doch ereigneten sich fast alle Anschläge im Rahmen akuter Konflikte im Nahen Osten, in Afrika und in Südasien und nicht als isolierter Angriff gegen eine der Großmächte. Terrorismus spielt sich zunehmend lokal begrenzt und dezentralisiert ab. Er ist außerdem resilient: Die Gefangennahme oder Tötung des Kopfes einer Terrororganisation bedeutet nicht zwangsläufig deren Ende.

Entfesseltes Amerika

Der 11. September markierte einen historischen Wendepunkt mit erheblichen Auswirkungen auf die US-Außenpolitik. Obwohl die Anschläge keine Ära des globalen Terrorismus einläuteten, führten sie zum "globalen Krieg gegen den Terror", der das Handeln der USA in der Welt, die Art, wie die Welt die USA heute sieht, und die Art, wie viele US-Amerikaner die Außenpolitik ihres Landes betrachten, in profunder Weise beeinflusst hat.

Die Saga beginnt in Afghanistan. Als die Taliban die Auslieferung der Al-Kaida-Führer verweigerten, betrieben US-Nachrichtendienste und Militärs mit einem als "Nordallianz" bekannten lockeren Bündnis afghanischer Stämme den Sturz der Taliban. Die USA halfen, eine Nachfolgeregierung auf die Beine zu stellen, die die Kontrolle über den größten Teil des Landes übernahm. Diese Kontrolle war jedoch nie vollständig oder unangefochten.

In der Spitze hatten die USA mehr als 100.000 Soldaten in Afghanistan stationiert. Die Kosten der US-Operationen beliefen sich auf mehr als zwei Billionen Dollar, und mehr als 2300 US-Amerikaner sowie Zehntausende von Afghanen verloren ihr Leben. Diese Bemühungen waren zugleich zu viel und nicht genug.

Kein "hilfloser Riese"

Der globale Krieg gegen den Terror verleitete die USA 2003 zudem zu einem Krieg im Irak. Es ist eine offene Frage, ob Präsident George W. Bush diesen Krieg auch ohne den 11. September angefangen hätte. Mit Sicherheit erhöhten die Anschläge seine Neigung, der Welt zu signalisieren, dass die USA kein – wie Präsident Richard Nixon es während des Vietnamkrieges formuliert hatte – "armseliger hilfloser Riese" seien.

Die USA waren auf vieles, was kommen sollte, schlecht vorbereitet. Letztlich waren sie gezwungen, ihre Militärpräsenz auf fast 170.000 Soldaten auszuweiten, um die unter Druck stehende Nachfolgeregierung in Bagdad zu stützen. Ein gewisses Maß an Stabilität wurde erreicht, doch unter enormen Kosten. Die USA gaben im Irak mindestens so viel Geld aus wie in Afghanistan, doch die menschlichen Kosten waren viel höher: Mehr als 4000 US-Soldaten wurden getötet, noch viel mehr verwundet.

Der Krieg im Irak schwächte die USA zudem noch auf andere Weise. Es gab nie Hinweise darauf, dass der Irak an den Anschlägen vom 11. September beteiligt war, und der Ruf der USA litt zusätzlich, als sich erwies, dass die Begründung für die Einleitung eines Krieges ohne UN-Unterstützung – die Beseitigung von Saddams Massenvernichtungswaffen – keinerlei reale Grundlage hatte. Bilder von US-Soldaten, die irakische Gefangene misshandelten, beschädigten den Ruf des Landes zusätzlich.

Strategische Ablenkung

Der Irak und Afghanistan erwiesen sich zudem als starke strategische Ablenkung. Während sich die USA im Nahen Osten und in Südasien – Regionen ohne Großmachtpräsenz oder wirtschaftliche Dynamik – stark engagierten, verschob sich dank der wachsenden Aggressivität Russlands und eines zunehmend fähigen und selbstbewussten Chinas das geopolitische Gleichgewicht in Europa und in Ostasien zulasten der USA. Der globale Krieg gegen den Terror bot keinen Kompass dafür, wie die US-Außenpolitik einer neuerlichen Rivalität zwischen den Großmächten begegnen sollte, und konnte es auch nicht.

Die im Gefolge des 11. Septembers geführten Kriege hatten für die USA zudem erhebliche innenpolitische Folgen. Sie erschütterten das Selbstvertrauen eines Landes, das aus dem Kalten Krieg mit historisch beispielloser Machtüberlegenheit hervorgegangen war, und die nationale Einheit, die im unmittelbaren Gefolge der Anschläge geherrscht hatte. Darüber hinaus weckten ihre Kosten und Fehlschläge den Widerstand gegen eine fortgesetzte große weltweite Rolle der USA und brachten eine neue Neigung zum Isolationismus hervor. Genauso untergrub das Drängen auf einen Krieg im Verbund mit der globalen Finanzkrise 2007–2009 und ihren wirtschaftlichen Folgen das Vertrauen der US-Amerikaner in die Eliten und begünstigte eine populistische Stimmung, die unter anderem half, den Weg für Donald Trumps Präsidentschaft zu bereiten.

Globales Zeitalter

Im Rückblick ist heute erkennbar, dass der 11. September ein Vorbote des Kommenden war: weniger der Globalisierung des Terrorismus als des Schreckens der Globalisierung. Die Anschläge vermittelten die Botschaft, dass Entfernung und Grenzen in einem globalen Zeitalter wenig bedeuten. Kaum etwas bleibt lange lokal begrenzt – egal, ob im Nahen Osten geborene und in Afghanistan ausgebildete Terroristen oder die Auswirkungen der globalen Finanzkrise, die ihren Ursprung im US-amerikanischen Finanzmissmanagement hatte.

Wir leben derzeit alle mit einem pandemischen Virus, das, seit es im Dezember 2019 in Zentralchina aufgetaucht war, Millionen von Menschen getötet hat. Die Feuersbrünste, Dürren, Überflutungen, Stürme und Hitzewellen, die derzeit große Teile der Welt verheeren, sind die Folgen eines Klimawandels, der selbst ein kumulativer Effekt menschlicher Aktivitäten ist.

Nun schließt sich der Kreis: Die durch die Ereignisse in Afghanistan ausgelöste Ära markiert ihren 20. Jahrestag mit Ereignissen in Afghanistan. Vor 20 Jahren wurden die Taliban in kurzer Zeit gestürzt; in den letzten Wochen haben sie ihre Macht genauso schnell zurückgewonnen. Es ist zu früh, um zu wissen, ob die Taliban auf frühere Gewohnheiten zurückverfallen werden und sich einmal mehr zu Förderern des Terrorismus entwickeln werden und ob Terroristen überall auf der Welt durch ihren Sieg über die USA und ihre Verbündeten Auftrieb erhalten werden. Was wir freilich wissen, ist, dass uns der Terrorismus erhalten bleiben wird. Er wird die Zukunft nicht definieren, doch er wird ein sichtbarer Aspekt der Globalisierung bleiben, die das bereits getan hat. (Richard N. Haass, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 12.9.2021)