Wenn man FPÖ-Chef Herbert Kickl und anderen radikalen Impfgegnern zuhört, dann sind Ungeimpfte in Österreich bereits eine diskriminierte und gebrandmarkte Minderheit, die vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wird. Dabei haben sie bisher nur wenige Nachteile zu spüren bekommen. Unter der 3G-Regel herrschen für sie keinerlei Einschränkungen, solange sie sich regelmäßig testen lassen – kostenlos, oder genauer gesagt: auf Kosten der Allgemeinheit.

Doch das dürfte sich bald ändern. Angesichts der steigenden Infektionszahlen wächst sich das schleppende Durchimpfungstempo – nur 58 Prozent sind in Österreich doppelt geimpft – zur nationalen Krise aus. Zwar erwischt das Virus auch manche Vollimmunisierte, aber auf den Intensivstationen landen praktisch nur Ungeimpfte.

In Deutschland protestieren Impfgegner.
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Immer mehr Geimpfte sehen nicht mehr ein, warum ihnen die Rückkehr zu einem normalen Leben wie vor der Pandemie durch die Unvernunft einer Minderheit versperrt werden soll – oder sie gar fürchten müssen, dass sie im Fall eines Unfalls oder einer schweren Erkrankung nicht optimal medizinisch betreut werden können, weil auf den Intensivstationen zu wenig Platz ist. Die Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte, die Kickl und Co beschwören, könnte innerhalb weniger Wochen Wirklichkeit werden.

Im zuletzt von der Regierung verkündeten Stufenplan kommen die Ungeimpften noch relativ ungeschoren davon. Die erste Maßnahme, die nur für diese Gruppe gilt, aber nicht für Immunisierte oder Genesene, wäre die FFP2-Masken-Pflicht im allgemeinen Handel – eine Vorschrift, die sich allerdings nur schwer kontrollieren lässt. Erst in der zweiten Stufe, wenn 15 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sind, wären Ungeimpfte von Nachtgastronomie und Großveranstaltungen ausgeschlossen, weil dies dann über eine 2G-Regel Geimpften vorbehalten wird. Für manche Jüngere wäre das ein schmerzhafter Verzicht und könnte sie vielleicht zum Impfen verleiten, für viele andere hingegen wäre es wohl hinnehmbar.

Anders wäre es, wenn die jüngste Ankündigung von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) Realität wird: Bei einer Auslastung der Intensivkapazitäten von 25 Prozent könnten Ungeimpfte von jedem Gastronomiebesuch ausgeschlossen werden, sagte er der Kleinen Zeitung. Auch diese Schwelle dürfte noch im Herbst erreicht werden, wenn die jetzigen Trendlinien anhalten. Kinos, Theater, Sportveranstaltungen könnten dann folgen, vermuten Experten. Für die Teilhabe am öffentlichen Leben wäre die Covid-Impfung dann tatsächlich Voraussetzung.

Die ÖVP, die vor der Landtagswahl in Oberösterreich um freiheitliche Stimmen buhlt, drückt sich derzeit noch vor diesem Szenario. Aber aus rechtlicher Sicht wären solche gezielten Einschränkungen unproblematisch, sagt der Verfassungsrechtsexperte Heinz Mayer. Denn Ungeimpfte gefährdeten nicht nur sich selbst, sondern auch andere, weil sie sich viel leichter infizierten, dann ansteckender seien und bei schwerer Erkrankung das Gesundheitssystem belasteten.

Pandemie ist nicht privat

"Auch Auto fahren darf man nur mit Führerschein und studieren nur mit Hochschulreife", sagt Mayer. "Wer eine Gefahr für andere darstellt, dem kann man Freiheiten entziehen, wer das nicht tut, den soll man keinen Einschränkungen unterwerfen." Die Pandemie sei schließlich keine Privatsache, die Entscheidung für oder gegen die Impfung kein Ausdruck persönlicher Selbstbestimmung. Keinesfalls dürfe es einen Lockdown für alle geben, wenn nur wenige die schwerwiegenden Pandemiefolgen verursachten.

Mayer befürwortet daher auch eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, vor allem für das Gesundheitspersonal und die Lehrerschaft. Selbst eine allgemeine Impfpflicht, wie sie bis in die 1970er-Jahre etwa für die Pocken gegolten hat, hält er für verfassungskonform, wenn auch heute politisch schwer umsetzbar.

Was andere Länder tun

Andere Länder, die ebenfalls mit Impfskepsis, zu niedrigen Durchimpfungsraten und rasch steigenden Infektionszahlen zu kämpfen haben, gehen bereits in diese Richtung: In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron die Impfpflicht für alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen verordnet. In Italien will Premier Mario Draghi eine Impfpflicht schrittweise einführen, sobald die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) die Impfstoffe auch regulär zugelassen hat. Und in den USA hat Präsident Joe Biden Pläne angekündigt, dass alle Bundesbediensteten und Mitarbeiter von Unternehmen, die öffentliche Aufträge vom Bund erhalten, durchgeimpft sein müssen.

Überall sind solche Maßnahmen umstritten und lösen heftige Proteste aus. In Österreich tritt keine einzige Partei für eine generelle Impfpflicht ein, auch nicht für das angestellte Personal in Krankenhäusern und Schulen. Nur bei Neuanstellungen wird die Impfung immer öfter zur Voraussetzung, auch in vielen privaten Unternehmen, die solche Entscheidungen frei treffen dürfen. Aber auch das betrifft kurzfristig zu wenige Menschen, um das Impftempo deutlich zu erhöhen.

Der österreichische Weg ist das, was Gegner eine indirekte Impfpflicht nennen, womit sie nicht ganz unrecht haben. Mit dem Argument, man müsse sie und andere schützen, macht man das Leben für Ungeimpfte über 1G- und 2G-Regeln so unbequem, dass man sie doch noch zum Impfen verleitet. Damit erreicht man zwar keine radikalen Impfgegner, sondern verstärkt nur ihr Misstrauen und ihren Hass gegenüber der Obrigkeit, sehr wohl aber jene, die noch zweifeln oder sich vor den vielen im Internet verbreiteten angeblichen Nebenwirkungen fürchten.

Unethisches Argument

Für Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission, ist diese indirekte Impfpflicht ein "unethisches Argument". Es gebe allerdings aus epidemiologischer Sicht genügend Gründe für Einschränkungen von Ungeimpften, die letztlich auf das Gleiche hinauslaufen würden. Allerdings müsse jeder Schritt wissenschaftlich begründet werden und nicht mit der Absicht, Ungeimpften das Leben möglichst schwer zu machen. Und auch Druml hält einen verstärkten Druck auf Ungeimpfte für notwendig. "3,5 Millionen ungeimpfte Österreicher sind eine dramatische Situation", sagt sie. "Wir können als Gesellschaft so nicht weitermachen. Wir müssen schauen, dass Menschen ihre gesellschaftlichen Pflichten erfüllen."

Eine sanftere Ausformung dieser Strategie ist es, Ungeimpften das Testen zu erschweren, indem PCR- Tests statt der schnelleren Antigentests verlangt werden und deren Gültigkeitsdauer verkürzt wird. Dies ist in den vergangenen Wochen bereits geschehen und wird im Stufenplan der Regierung ausgeweitet. Der nächste Schritt, den unter anderem auch Mückstein andenkt, ist das Aus für Gratistests, die die Steuerzahler bisher rund zwei Milliarden Euro gekostet haben. In wenigen Ländern der Welt sind Tests gratis so leicht verfügbar wie in Österreich, was manche sicher vom Impfen abgehalten hat.

Dagegen wehrt sich allerdings der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ): Er glaube nicht, dass der Kostenfaktor die Impfbereitschaft erhöhen würde.

Kein Lohn für ungeimpft Erkrankte?

In Israel, das den Ruf des Impfweltmeisters erworben hat, aber wieder mit sehr hohen Infektionszahlen zu kämpfen hat, gilt zwar wie derzeit in Österreich eine 3G-Regel in Lokalen, Kultureinrichtungen, Schulen, Unis und Hotels, doch sind Tests nur für Kinder unter zwölf gratis. Selbst dort sind bisher nur 63 Prozent zweifach geimpft, nicht so viel mehr als in Österreich.

In Deutschland wird eine weitere Maßnahme überlegt, um Ungeimpfte umzustimmen: In mehreren Bundesländern sollen sie kein Gehalt mehr bekommen, wenn sie wegen einer Infektion in Quarantäne müssen oder erkranken. In Österreich wäre das nach jetziger Rechtslage nicht möglich, schrieb die Arbeitsrechtlerin Kristina Silberbauer vor kurzem im STANDARD.

Zerstörtes Vertrauen

Der Mediziner und Public-Health-Experte Martin Sprenger, der Österreichs Corona-Strategien kritisch gegenübersteht, hält nichts vom Ruf nach Impfpflichten oder neuen Hürden für Nichtgeimpfte. Die frühe Debatte über verpflichtende Impfungen, noch bevor die ersten Impfstoffe zugelassen wurden, hätten Vertrauen zerstört und die Impfbereitschaft verringert. Nötig sei eine viel bessere Informations- und Überzeugungskampagne, die den 15 Kriterien für gute Gesundheitskommunikation der Plattform Gesundheitskompetenz (ÖPGK) erfüllt.

Für Sprenger spielt die soziale Komponente eine entscheidende, bisher unterschätzte Rolle. Menschen im untersten Einkommensfünftel hätten ein drei- bis fünffach so hohes Risiko, auf einer Intensivstation zu landen, wie die im obersten Fünftel – auch als Folge einer geringen Durchimpfungsrate. "Wir müssen zuerst herausfinden, wo die Impflücken sind, diese Menschen proaktiv aufsuchen und vertrauensbildende Gespräche führen", sagt er. Dafür seien Hausärzte am besten geeignet, bei Menschen mit Migrationshintergrund andere Vertrauenspersonen. Sprenger: "Einen gewissen Teil der Bevölkerung erreicht man nur, wenn man viel Energie aufwendet und sehr professionell agiert." Dies habe Österreich – anders als etwa Staaten wie Dänemark – bisher verabsäumt.

Fokus auf Risikogruppen

Statt auf die allgemeine Durchimpfungsrate zu starren, sollte man Impflücken in Risikogruppen schließen und wieder stärker auf die Menschen in den Pflege- und Seniorenheimen achten, bei denen die Wirkung der Impfung möglicherweise bereits nachlässt und die daher bald einen dritten Stich benötigen. "Nicht die Jungen, sondern diese Risikogruppen sind es, die darüber entscheiden, wie wir durch den Winter kommen", sagt Sprenger.

Doch auch immer mehr Junge landen nach einer Covid-Infektion auf Intensivstationen, wo sie zwar fast immer überleben, aber die Betten oft wochenlang besetzen, die dann für Patientinnen und Patienten mit anderen Erkrankungen nicht zur Verfügung stehen. Schon jetzt werden in Wien die ersten planbaren Operationen verschoben, um Platz für Covid-Fälle zu schaffen. Würden diese weiter dramatisch steigen, dann gerieten Mediziner in die Zwangslage, dass sie nicht mehr allen Patienten die beste Behandlung bieten können – die gefürchtete Triage.

Sollen in diesem Fall ungeimpfte Covid-Kranke anderen Patienten wirklich gleichgestellt werden? Die medizinische Ethik verlangt dies, betont Druml. Noch mehr: Laut einem Dokument der Bioethikkommission sollte im Notfall "die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der maßgebliche Orientierungspunkt" für die Entscheidung sein, wer zuerst behandelt wird. Aber das würde bedeuten, dass ein junger Covid-Kranker, der die Impfung verweigert hat, einer älteren Krebspatientin vielleicht vorgezogen werden muss – ein schlimmes ethisches Dilemma. Drumls bedrückendes Fazit: "Wir wollen alle wieder ein normales Leben führen, aber ich weiß kein Rezept, wie das möglich wird, wenn sich diese Menschen nicht impfen lassen." (Eric Frey, 11.9.2021)