Bei dem Fremdling, der im vergangenen November Kindberg in der Steiermark eine Visite abgestattet hat, handelt es sich um einen hohen Besuch. Um allerhöchsten, um genau zu sein: Der Eindringling stammt aus dem Asteroidengürtel zwischen den Planeten Mars und Jupiter. Hier entstand er vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren, gleichzeitig mit dem Sonnensystem. Irgendwann, wohl nach einem Kollisionsereignis vor vielen Millionen Jahren, machte sich der Reisende auf den Weg ins innere Sonnensystem. Seine spektakuläre Ankunft als grün leuchtender Feuerball beobachteten trotz nachtschlafender Zeit hunderte Menschen in Deutschland, Italien, Tschechien und Österreich. Doch obwohl Berechnungen zeigten, dass Fragmente des Meteoroiden es bis auf die Erdoberfläche geschafft haben mussten, blieben sie verschollen. Bis Anfang Juli, als ein Bruchstück des Meteoriten wieder auftauchte – in Kindberg, genau dort, wo die größten Fragmente vermutet wurden.

Der gesuchte Meteorit tauchte in Kindberg im Mürztal auf – genau dort, wo er den Berechnungen zufolge vermutet wurde.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière

Die Entdeckung des Kindberg-Meteoriten ist aufgrund der Umstände eine wissenschaftliche Sensation: Erstmals konnte in Österreich mithilfe einer detaillierten Bahnberechnung ein Stein aus dem All lokalisiert werden – auch dank der Beharrlichkeit des Impaktforschers und Kurators der Meteoritensammlung des Naturhistorischen Museums in Wien, Ludovic Ferrière, und der Aufmerksamkeit der von ihm sensibilisierten lokalen Bevölkerung.

Exakte Bahnberechnung

Am 19. November 2020 erleuchtete um 4.46 Uhr ein Feuerball den Nachthimmel. 24 Sekunden lang war der Meteor zu sehen. Hochspezialisierte Kameras verschiedener Feuerball-Netzwerke zeichneten das Ereignis auf. Diese Daten ermöglichten eine genaue Bahnberechnung und Rückschlüsse auf die Größe des Meteoroiden vor dem Eintritt in die Atmosphäre. Experten der tschechischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichten direkt nach dem Fall ein Dossier. Sie berechneten die Masse des Meteoroiden, der mit 14 km/s in südöstlicher Richtung die Atmosphäre eindrang, auf rund 270 Kilogramm. Von der ursprünglichen Masse ging der Großteil verloren: Die Materie verglühte und sorgte so für ein Spektakel am Himmel, von etwa hundert Kilometern über dem Erdboden bis zu einer Höhe von 25 Kilometern. Danach begann die Phase des Dunkelflugs. Die Berechnungen sagten voraus, dass in einem fünfzig Kilometer langen und bis zu drei Kilometer breiten Korridor zwischen Lunz am See und Kindberg zahlreiche Fragmente die Erdoberfläche erreicht haben, wobei die leichtesten Stücke zuerst zu Boden fielen, die größten aber am weitesten flogen.

Schlechte Voraussetzungen

Ferrière mobilisierte kurz nach dem Fall ein kleines Team mit einem meteoritophilen Außenpolitikjournalisten im Schlepptau für eine spontane Suche in der Region um Kindberg, wo größere Funde mit bis zu vier Kilogramm denkbar wären. Doch das fundträchtige Gebiet ist nicht nur riesig, sondern auch stark bewaldet und gebirgig und daher denkbar schlecht für die Meteoritensuche geeignet. Dass es in der Nacht nach dem Fall schneite, minderte die Chancen weiter. Der Forscher setzte daher von Beginn an auf die Mithilfe der ansässigen Bevölkerung und den Ansatz der "Citizen-Science". Anhand mitgebrachter Infoblätter erklärte Ferrières Team jedem, dem es begegnete, woran ein Meteorit zu erkennen ist und worauf bei einem Fund zu achten ist. Dies sollte schließlich Früchte tragen.

Anfang Juli läutet das Telefon des Redakteurs: "Wir haben einen Meteoriten!", sagt Ferrière, der als Kurator die größte ausgestellte Meteoritenschau der Welt betreut. "Ja, ich weiß. Ihr habt viele", lautet die lakonische Antwort – wohlwissend, dass es sich nur um den Meteoriten handeln kann.

Volltreffer

Dutzende Menschen meldeten sich seit November bei Ferrière, weil sie glaubten, einen Meteoriten entdeckt zu haben, ebenso oft stellte sich der Fund als Fehlalarm heraus. Doch der Anrufer aus Kindberg, der sich Anfang Juli an das Museum wendet, legt Ferrière Fotos vor, die keinen Zweifel lassen: Eine dünne samtglänzende schwarze Schmelzkruste, ein von Schockvenen durchzogenes helles, braungraues Inneres mit leichten Oxidationsspuren – dies ist eindeutig ein Meteorit. Es stellt sich heraus, dass der Anrufer tatsächlich zu jenen Personen gehört, die der Impaktforscher im Rahmen seiner Exkursionen im November über den Meteoritenfall informierte. Ein Familienmitglied findet schließlich den ungewöhnlichen schwarzen Stein mit hellen Bruchflächen am Rand einer Waldstraße.

Das 233-Gramm-Fragment des Kindberg-Meteoriten an exakt der Stelle, an der er am 4. Juli 2021 gefunden wurde.
Foto: Michael Vosatka

Ferrière fährt am nächsten Tag gemeinsam mit der Co-Kuratorin Julia Walter-Roszjár und dem Redakteur nach Kindberg, um bei brütender Hitze den Fundort zu inspizieren und eine Suche nach weiteren Fragmenten durchzuführen. Doch diese bleibt ergebnislos: Rund um die Fundstelle ist der Waldboden von dichten Heidelbeersträuchern überwuchert.

Meteoritensuche ist eine meditative Tätigkeit: gesenkten Hauptes schreitet man in gleichmäßigen Abständen voneinander getrennt über die abzusuchenden Flächen.
Foto: Michael Vosatka

Wissenschaftliche Untersuchungen

Dankenswerterweise stellen die Finder dem NHM den Meteoriten für wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung. Hierfür wurde eine kleine Probe von dem 233 Gramm schweren Stein abgetrennt. Bei den Untersuchungen zur Klassifizierung kamen eine Elektronenstrahlmikrosonde, ein Mikro-CT-Gerät und 3D-Scanner zum Einsatz.

Eine Messung kosmogener Radionuklide bestätigte, dass sich der Meteorit erst seit kurzer Zeit auf der Erde befindet. Die Ergebnisse wurden der Meteoritical Society zur Genehmigung vorgelegt. Sobald dies geschehen ist, wird der Stein künftig den Namen Kindberg tragen und der achte Österreicher und erste Steirer im internationalen Verzeichnis sein. Wie seine sieben Kollegen ist auch Kindberg ein gewöhnlicher Chondrit.

Kindberg ist der erste bestätigte Meteoritenfund in Österreich seit 44 Jahren. 1977 wurde in Ybbsitz in Niederösterreich das letzte Mal bestätigterweise ein Meteorit gefunden. Das letzte Mal, dass ein Meteorit nach der Beobachtung seines Falls geborgen werden konnte, ist mit Prambachkirchen fast 90 Jahre her.

Der Kindberg-Meteorit in der Hand der Finderin.
Foto: Michael Vosatka

Besonders spektakulär ist die Tatsache, dass Kindbergs Orbit aufgrund der Kameradokumentation berechnet werden und damit auf seine Ursprünge rückgeschlossen werden kann. Dies ist erst bei gut drei Dutzend von zehntausenden Meteoriten gelungen. Wünschenswert wäre deshalb, dass Kindberg als wissenschaftlich wichtiger Meteorit nicht in einer privaten Kollektion verschwindet, sondern als Teil des kulturellen Erbes seinen Weg in die Sammlung des NHM findet. (Michael Vosatka, 14.9.2021)


Die wichtigsten Minerale des Kindberg-Meteoriten in einem Mikrosonden-Übersichtsbild (Rückstreuelektronen-Modus) (ol = Olivin; opx = Orthopyroxen; pl = Plagioklas; tae = Taenit; chr = Chromit; tro = Troilit; mer = Merrillit).
Foto: NHM/Walter-Roszjár
Mikrosonden-Rückstreuelektronenbild der Schmelzkruste des Kindberg-Meteoriten. Bei den hellen Flecken handelt es sich um Magnetit, der beim Eintritt des Steines in die Atmosphäre am 19. November 2020 skelettartig kristallisiert ist.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière
Mikrosonden-Rückstreuelektronenbild eine der seltenen Chondren im Inneren des Kindberg-Meteoriten.
Foto: NHM/Walter-Roszjár
Das Innenleben des Meteoriten, mit der Mikro-Computertomographie sichtbar gemacht. Blau eingefärbt sind Metall- und Sulfidkörner; der Rest, in Grautönen gehalten, wird von Silikatmineralen dominiert.
Foto: NHM/Winkler
Die Schnittfläche zeigt eine braunschwarze Schmelzkruste und das grau-orangefarbene Innere des Meteoriten, erkennbar sind Schockmerkmale und die leichte Rostbildung durch Verwitterung auf der Erdoberfläche.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière