Kommunikationswissenschafter Josef Seethaler.

Foto: Akademie der Wissenschaften

Wie soll der der ideale öffentlich-rechtliche Rundfunk der Zukunft aussehen? DER STANDARD hat in in den letzten Wochen Medienexpertinnen und -experten, Medienwissenschafter und -wissenschafterinnen, Medienpolitikerinnen und -politiker und auch Bewerber und Bewerberinnen um möglichst konkrete Ideen, Vorstellungen und Vorschläge für einen idealen ORF gebeten.

Josef Seethaler, stellvertretender Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität sowie Lehrender am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, skizziert seine Ideen für den ORF wie folgt:

Welche Angebote/Inhalte sollte der ideale ORF haben/bieten – Channels, Medien, Inhalte, Schwerpunkte?

"Das ORF-Gesetz definiert den öffentlich-rechtlichen Auftrag ganz klar als Bereitstellung eines 'differenzierten Gesamtprogramms von Information, Kultur, Unterhaltung und Sport für alle' und dieses 'Angebot hat sich an der Vielfalt der Interessen aller Hörer und Seher zu orientieren und sie ausgewogen zu berücksichtigen'. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, muss der ORF alle Verbreitungswege für Content ohne inhaltliche oder zeitliche Beschränkungen nutzen dürfen – alles andere ist anachronistisch. Das impliziert zweierlei: den kontinuierlichen Ausbau des dafür notwendigen technologischen und journalistischen Know-hows und Werbefreiheit der Onlineinhalte, die an einen finanziellen Ausgleich der entgangenen Werbeeinnahmen gekoppelt sein muss.

  • Auf- und Ausbau digitaler Medienprojekte (von digitalen Plattformen bis zu KI-unterstützten Produktionen und nutzungsorientierter Aufbereitung von Inhalten einschließlich demokratietauglicher algorithmischer Vorschlagsysteme)
  • Das schließt mit ein: gerade bei digitalen Projekten darauf achten, wo die jungen Altersgruppen gerade sind … Digitale Projekte müssen also dynamisch angelegt sein.
  • Aber auch notwendig: Nachjustierung der traditionellen Formate. (Ein persönlicher Wunsch als Angehöriger älterer Zielgruppen: mehr Diskussionssendungen zu politischen und gesellschaftlichen Grundsatzthemen, zu denen keine Vertreter oder Vertreterinnen extremer, kaum relevanter Positionen bloß aufgrund des Spaßfaktors eingeladen sind, sondern in denen ernsthaft und niveauvoll diskutiert wird.)

Durchaus interessant ist, dass das Gesetz von der 'Vielfalt der Interessen aller Hörer und Seher' spricht und damit Angebote mit Breitenwirkung und spezielle Angebote für bestimmte Bevölkerungsgruppen meint: Die Liste der im 'öffentlich-rechtlichen Kernauftrag' genannten vielfältigen Interessen ist ellenlang. Vier der dort genannten Interessensbereiche gelten im 'Media Pluralism Monitor' der Europäischen Kommission als demokratiepolitisch besonders relevant: die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Interessen der Regionen, die Interessen von Minderheiten und von Menschen mit Behinderungen. Regional ist der ORF bestens aufgestellt, doch sonst besteht Verbesserungsbedarf:

  • Die vom scheidenden Generaldirektor Alexander Wrabetz 2020 eingeführte '50:50-Challenge', die die Programmschaffenden dazu ermutigt, freiwillig den Anteil von Frauen und Männern in ihren Programmen zu messen und eine ausgeglichene Vertretung anzustreben, sollte unbedingt weitergeführt werden.
  • An der kontinuierlichen Erhöhung der Barrierefreiheit aller AV-Medieninhalte arbeitet der ORF ohnehin (seit kurzem auch auf einer besseren rechtlichen Grundlage).
  • Und die Repräsentation von Minderheiten muss dringend über die (auch zu schwach berücksichtigten) sechs autochthonen Volksgruppen hinaus erweitert werden."

In welcher Qualität bzw. auf welche Qualitäten/Eigenschaften/Kriterien besonders achten?

"Das ORF-Gesetz spricht davon, dass sich 'insbesondere Sendungen und Angebote in den Bereichen Information, Kultur und Wissenschaft' durch 'hohe Qualität' auszuzeichnen haben, also vor allem jene Bereiche, die demokratiepolitisch bedeutsam sind. Doch es sind nicht nur die Interessen und Mediennutzungsgewohnheiten der Menschen vielfältig und in Bewegung, sondern auch ihre Vorstellungen von dem, was Demokratie für sie bedeutet. Diese Bewegung ist freilich im Gesetz noch nicht angekommen, dem immer noch das Leitbild eines Journalismus zugrunde liegt, der eine rein vermittelnde Funktion zwischen dem politischen System und der in ihrer Rolle als Staatsbürger und Staatsbürgerinnen gedachten Bevölkerung 'umfassend, unabhängig, unparteilich und objektiv' (Letzteres heißt in der Regel 'ausgewogen') erfüllt. Das entspricht einem repräsentativen Demokratieverständnis, in dem die Bürger und Bürgerinnen die Verantwortlichkeit für Politik und Gesellschaft an die gewählten Vertreter und Vertreterinnen delegieren. Allerdings sollte man gerade deshalb von den Medien Kontrolle und Kritik erwarten – doch diese wird im ORF-Gesetz kaum erwähnt.

Nun wollen aber immer mehr Menschen – Umfragen sprechen von um die 40 Prozent der Bevölkerung – die Verantwortung für ihre Umwelt und die Gemeinschaft, in der sie leben, selbst übernehmen, nicht um den Staat auszuhebeln, sondern um insbesondere im lokalen Raum eine sinnvolle Ergänzung staatlicher Aktivitäten zu verwirklichen. Um die Menschen dazu zu befähigen, gilt es einerseits, die vorhandene Bereitschaft zu aktivieren, und andererseits, Foren der Vernetzung und Möglichkeiten der Interaktion und des Austausches zu schaffen. Dies erfordert eine ganz andere Qualität von Journalismus: einen Journalismus, der nicht nur vermittelt, sondern Partizipation ermöglicht. Da vor allem die jüngeren Generationen zu diesem Demokratieverständnis neigen, wird dies zur demokratischen Bewährungsprobe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

In Punkte gefasst:

  • Stärkung eines investigativen Journalismus im Sinne von Kritik und Kontrolle der politisch Mächtigen
  • Intensivierung der Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen an der Produktion von Medieninhalten und an Diskussionen über Fragen von öffentlichem Interesse
  • Enge Kooperation mit anderen Medien und unabhängigen Organisationen zur Aufdeckung von und Sensibilisierung gegenüber Desinformation."

Welche Angebote/Inhalte/Channels braucht er womöglich nicht?

"In einer sich permanent verändernden Medienwelt und sich ebenso permanent verändernden Mediennutzungen gilt der oben genannte gesetzliche Auftrag umso mehr: ein offenes Ohr für die unterschiedlichen und sich wandelnden Interessen der Publika haben."

Wie sollte die Unabhängigkeit des Unternehmens, des Angebots und insbesondere seiner Berichterstattung organisiert werden?

"Zuerst ist festzuhalten: Laut dem 'Reuters Digital News Report' vertrauen – über die letzten Jahre weitgehend stabil – zwei Drittel der Bevölkerung den Nachrichten des ORF. Während der Covid-19-Pandemie waren es sogar drei Viertel. Kein anderes Medium kann hier mithalten. Diese Vertrauenswerte für die Informationsleistung des ORF geben eine deutliche Antwort auf die Frage nach der Unabhängigkeit der Berichterstattung. Sie gilt es weiter zu stärken. Das ist die eine Seite.

  • Konsolidierung von Redaktionen: mehr feste als freie Journalisten und Journalistinnen = mehr Zeit für Recherchen; Ausbau von Korrespondentennetzwerken und internationalen redaktionellen Kooperationen
  • Förderung sozialer Vielfalt in Redaktionen und im Management: Was die Repräsentanz von Frauen betrifft, ist der ORF zumindest im redaktionellen Bereich recht gut unterwegs; in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht, aber auch betreffend behinderte Menschen gibt es Nachholbedarf.
  • Stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft und von Betroffenen in Programmgestaltung und Berichterstattung (zu Lasten von Politikern und Politikerinnen sowie Behördenvertretern und -vertreterinnen)."

Wie sollte dieser ORF geführt werden?

"Die andere Seite: Zu viele politische Vertreter bzw. Vertreterinnen scheinen die hohe Glaubwürdigkeit des ORF als Ansporn misszuverstehen, Einfluss über ihn gewinnen und ausüben zu wollen. Folgt man den Ergebnissen des 'Media Pluralism Monitor', so ist die Unabhängigkeit der Steuerung und Finanzierung des ORF stark gefährdet. Die Ursache dafür liegt im Gesetz, das geradezu einlädt, Einfluss auf Ernennungs- und Abberufungsverfahren für Leitungs- und Vorstandspositionen zu nehmen. Immerhin werden 15 der 35 Mitglieder des Stiftungsrats von der Bundesregierung ernannt, sechs davon unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses der im Parlament vertretenen politischen Parteien. Außerdem nominiert jedes der neun Bundesländer ein Mitglied. In der Wissenschaft nennen wir das 'Politics-in-broadcasting'-System. Zu Deutsch: Die Politik hat ihre Finger im Rundfunk. Doch dort gehören sie in einer Demokratie nicht hin.

  • Ende des anachronistischen 'Politics-in-Broadcasting'-Systems: Es wäre zwar blauäugig anzunehmen, das Problem politischer Einflussversuche auf Management und Personalpolitik des ORF allein durch eine Re-Organisation des Stiftungsrates lösen zu können, aber es wäre dennoch ein vertrauensbildendes Signal, wenn Politiker und Politikerinnen Fachleuten Platz machen würden, die in ihren Wirkungsfeldern berufsethischen Maßstäben unterliegen – und auch diese müssten einer permanenten, geregelten Ablöse unterliegen (= nach Karl Popper das Kennzeichen demokratischer Strukturen). In ihre Entsendung könnten (auch) große zivilgesellschaftliche Organisationen eingebunden werden, die die internen Entscheidungsprozesse (zum Beispiel Wahl durch ein Gremium oder durch die Mitglieder) transparent machen müssten.
  • Ausschreibungen von Führungspositionen im Management mit argumentierten und nachvollziehbaren Qualifikationskriterien, öffentlichen Hearings (Livestream) und geheimer Wahl
  • Ausbau der Governance-Strukturen: insbesondere der Mitwirkungs-/Mitbestimmungsmechanismen bei der Bestellung redaktioneller Führungspositionen und (als weiterer Pfeiler neben den Kontrollbefugnissen der KommAustria) Beteiligung an Bemühungen zur Schaffung eines generell zuständigen und sanktionsfähigen Medienrats." (Josef Seethaler, 14.9.2021)