Human Rights Watch berichtet von Entführungen abgeschobener Tschetschenen.

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Kann man verurteilte Straftäter in ein Land abschieben, in dem ihnen unrechtsame Verfolgung und Gefahr drohen? Nach Afghanistan sind Abschiebungen faktisch nicht möglich, urteilten Gerichte. Anders ist das in Bezug auf Russland, obwohl die Gefährdungslage für Tschetschenen breitflächig dokumentiert ist. Das zeigt der Fall Khamzat Musaev: Dem vierfachen Vater war im August mitgeteilt worden, dass er seinen Asylstatus verloren habe und jederzeit nach Russland abgeschoben werden könnte. Er kam 2004 mit seinen Eltern und vier Geschwistern nach Österreich. Sein Leben ist von Krieg geprägt: Als Zwölfjähriger erlitt er eine schwere Kopfverletzung, als eine russische Bombe das Haus seiner Familie in Tschetschenien zerstörte. Einer seiner Brüder wurde getötet; seine jüngere Schwester erlitt starke Brandwunden. In Österreich begann Musaev zu boxen. Zwischen 2008 und 2013 war er fünffacher Staatsmeister in seiner Gewichtsklasse; er arbeitete außerdem mit Kindern und Jugendlichen.

Verhängnisvolle Türkeireise

Im Juli 2013 machte sich sein Vater mit ihm und seinem Bruder auf den Weg in die Türkei; wo Musaev laut eigenen Angaben ein Trainingscamp für Boxer besuchen wollte. Ihm soll nicht klar gewesen sein, dass sein Vater ins syrische Kriegsgebiet reisen wollte, um tschetschenische Kämpfer zu unterstützen. Musaev behauptet, er habe fliehen wollen, als er die Pläne seines Vaters erfahren habe; da sei er jedoch schon im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit einigen ausländischen Jihadisten festgesteckt. Musaev überredete einen Kommandeur, nach seinem Training in Istanbul wieder zurückzukehren – stattdessen reiste er zurück nach Österreich, wo er das BVT informierte. Sein Bruder blieb beim Vater, konnte drei Monate später aber ebenfalls zurückkehren. Auch er meldete sich bei den Behörden, um über seine Erfahrungen zu berichten. Der Vater schloss sich schließlich der Terrorgruppe IS an, er soll 2015 in Syrien gestorben sein.

Seit ihrer Rückkehr wurde die Familie mit Drohanrufen aus Tschetschenien belästigt. DER STANDARD konnte gemeinsam mit der investigativen Plattform Bellingcat die Rufnummern der "Antiterrorismus-Abteilung" des tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrow zuordnen. 2019 wurden die Brüder Musaev dann plötzlich zu Beschuldigten in Terrorismusermittlungen. Sie waren seit 2015 zwar intensiv einvernommen, aber nicht als radikale Islamisten eingeschätzt worden. Nun war eine Zeugenaussage aufgetaucht, die die beiden Brüder belastete – in anderen Verhandlungen galt dieser "Kronzeuge" jedoch als unzuverlässig. Dennoch mussten beide Brüder im Juli 2019 in Haft. Khamzat Musaev kam vergangenen Juli frei und erfuhr, dass sich seine Frau von ihm getrennt hatte. Um die vier Kinder wolle man sich gemeinsam kümmern. Nun droht die Abschiebung – trotz der Drohungen aus Tschetschenien. Wie ist das möglich?

Anwältin: Gericht und Staatsanwaltschaft im Widerspruch

Der Verfassungsschutz sagte dem Bundesverwaltungsgericht, er habe "keine Kenntnis von glaubwürdigen Drohungen". Das Landesverfassungsamt (LVT) Wien sandte allerdings Informationen über die Identität der Anrufer aus Tschetschenien an die Staatsanwaltschaft Wien, dort fühlte man sich nicht zuständig, weil es sich "bei den Beschuldigten um Ausländer handelt". Muzaevs Anwältin Doris Einwallner sagt dazu: "Die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts, dass mein Mandant in Tschetschenien nicht bedroht sei, steht in direktem Widerspruch zur Ansicht der Staatsanwaltschaft Wien, die das Verfahren gegen die Täter nur eingestellt hat, weil diese sich in Tschetschenien aufhalten. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wie das BVwG davon ausgehen kann, dass mein Mandant im Fall einer Rückkehr keiner Gefahr ausgesetzt wäre."

Tanya Lokshina leitet die russische Dependance der renommierten NGO Human Rights Watch. Sie sagt dem STANDARD, dass Menschen, die nach Tschetschenien abgeschoben werden, "sehr wahrscheinlich gefoltert" werden. Nachdem Musaev "schon Drohungen aus Tschetschenien erhalten hat, offenbar von Personen aus den tschetschenischen Behörden, sei das Risiko für ihn enorm", so Lokshina. Das zeigen frühere Fälle. (Kate Manchester, 14.9.2021)