Aufgebrachte Menschenmengen sind in China ein seltener Anblick. Am Montag schafften es einige 100 Menschen in die Evergrande-Zentrale und skandierten: "Evergrande, gib uns unser Geld zurück!"

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Peking – Immer größer werden die Zahlungsschwierigkeiten und die damit verbundenen Konsequenzen des zweitgrößten chinesischen Immobilienentwicklers Evergrande. Das Unternehmen wälzt einen Schuldenberg von mehr als 300 Milliarden Dollar vor sich her und kann immer weniger Gläubiger bedienen. Bis Jahresende steht die Rückzahlung von 850 Millionen US-Dollar an. Die Kurse einiger Anleihen sackten am Montag abermals um 25 Prozent nach unten. Die in Hongkong notierten Aktien fielen auf ein neues Allzeittief von 3,5 Hongkong-Dollar.

Dass Chinas Immobilienmarkt ein Problem und eine Gefahr für die gesamte Volkswirtschaft darstellt, ist nichts Neues. In den begehrten Wirtschaftsmetropolen an der Ostküste kostet eine Wohnung schnell einmal das 80-Fache der Jahresmiete. Hinzu kommt die Tatsache, dass Eigentum im westlichen Sinn nicht existiert.Wer eine Wohnung kauft, der "least" sie in Wahrheit für 70 Jahre von der Kommunistischen Partei. Nun muss man kein Mathe-Genie sein, um herauszufinden, dass sich das eigentlich nicht lohnt: 80 Jahre lang etwas abbezahlen, das man nur 70 Jahre besitzen kann. Trotzdem schaufeln Millionen Chinesen jedes Jahr ihr Erspartes in eine Immobilie.

Mangel an Alternativen

Das hat zwei Gründe: Zum einen spekulieren sie auf steigende Preise, hoffen also darauf, die Wohnung ein paar Jahre später teurer verkaufen zu können. Zum anderen fehlen den Chinesen schlicht die Alternativen. Der Aktienmarkt ist als Zockerbude verschrien, die Zinsen sind niedrig, Geld im Ausland anzulegen ist Chinesen aufgrund der strengen Kapitalverkehrskontrollen untersagt. Es bleibt oft nur der Weg in den Immobilienmarkt.

Dass dieser immer wieder starke Anzeichen für eine Blasenbildung aufweist – zumindest in den sogenannten "first-tier cities", Schanghai, Peking und Shenzhen –, ist weitgehend bekannt. Immer wieder versucht die Kommunistische Partei deswegen Mechanismen zu implementieren, die den Preisanstieg bremsen sollen.

Wohnungskauf nur mit Hukou

So dürfen beispielsweise nur Chinesen, die auch ein Hukou in Schanghai besitzen, das heißt, dort registriert sind, dort Wohnungen kaufen. Der Wert verkaufter Wohnungen lag 2019 bei 2,5 Billionen US-Dollar, das entspricht mehr als zehn Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung, andere Schätzungen gehen sogar von 25 Prozent aus.

Dass die chinesische Regierung nun den zweitgrößten Immobilienentwickler Evergrande geordnet in die Insolvenz gehen lassen will, ist auch unter diesen Vorzeichen zu sehen. Peking hatte Anfang des Jahres die Schuldengrenze für Unternehmen verschärft. So kam es zu den Zahlungsschwierigkeiten von Evergrande. Der Konzern konnte kein neues Geld mehr aufnehmen, um die Gläubiger zu bedienen.

Bonität herabgestuft

Im Juni musste Evergrande erstmals Zinszahlungen für Anleihen aussetzen. Kurz darauf stuften die Ratingagenturen Moody's, Fitch und China Chengxin International die Bonität von Evergrande herab. Der nun einsetzende Vertrauensverlust entwickelte sich zu einer Lawine.

Geht es nach den Willen der Planer in Peking, muss Evergrande jetzt das Tafelsilber verscherbeln, um so den gigantischen Schuldenberg etwas kleiner zu machen. Anschließend soll der Konzern liquidiert werden. Im Idealfall hätte dieser deflationäre Effekt eine kühlende Auswirkung auf den überhitzten Immobilienmarkt. Klappt es nicht, entsteht ein Flächenbrand: Immer mehr Unternehmen geraten in Zahlungsschwierigkeiten, eine Kaskade von Unternehmenspleiten folgt. Von Chinas "Lehman-Moment" ist deswegen schon die Rede. Der Kollaps der amerikanischen Bank hatte 2008 die große Finanzkrise ausgelöst. Egal ob eine geordnete Liquidierung gelingt oder nicht, eines ist jetzt schon klar: Tausende von Anlegern werden auf ihren Forderungen sitzenbleiben. (Philipp Mattheis aus Peking, 14.9.2021)