Ursula von der Leyen hielt ihre bereits zweite Rede zur Lage der Nation. Einmal mehr stand diese im Zeichen von Corona.

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Reden zur Lage der Union von der Spitze der EU-Kommission vor dem Plenum des Europäischen Parlaments verfolgen stets zwei Hauptziele. Zum einen soll das konkrete politische Programm des bevorstehenden Arbeitsjahres vorgetragen werden. Man nutzt den großen Auftritt, um neue Initiativen anzukündigen. Das alles wird eingebettet in die längerfristige gemeinsame Strategie, die Regierungen und Abgeordnete aus den Mitgliedsstaaten mit der Zentralbehörde vereinbart haben.

Zum anderen ist es aber eine Gelegenheit, eine große Erzählung über Europas Weg in die Zukunft zu liefern. Idealerweise gelingt damit eine Ermunterung, auch als Motivationsschub für 450 Millionen EU-Bürger, eine "Ruckrede", wie man so sagt: Vorwärts!

So war das auch, als Ursula von der Leyen am Mittwoch ans Pult trat. Voriges Jahr waren die EU-Staaten gerade noch tiefer in die zweite Welle der Corona-Krise gerutscht. Und es gab damals zwar die Hoffnung auf einen Impfstoff, aber keine Sicherheit, dass dieser Ende 2020 kommen wird. Die EU-Kommission geriet in die Defensive.

Nicht nur deswegen war am Mittwoch von der ersten Minute an klar, dass diese "State of the Union 2021" anders, etwas ganz Besonderes werden könnte, weil "Europa geliefert" habe und jetzt mehr als 70 Prozent der erwachsenen Europäer geimpft seien, wie von der Leyen stolz verkündete, mehr als sonst wo in der Welt.

Seit Februar 2020 war es das erste Mal, dass sich die Mandatare in Straßburg physisch mit der Kommissionschefin austauschten. Aus Italien kam in der Früh die Meldung, dass die Wirtschaft dieses Jahr um sechs Prozent, 2022 um vier Prozent wachsen werde.

Die erste Frau an der Kommissionsspitze, eine ausgebildete Ärztin, griff dies in ihren Ausführungen unter dem wohl nicht zufällig gewählten Titel "Stärkung der Seele Europas" sofort auf. Viele Menschen hätten heute das Gefühl, dass ihr Leben auf Pausentaste gedrückt wurde, während die Welt sich mit "fast forward" verändert habe. Das Tempo und das gewaltige Ausmaß an Veränderung seien schwer zu bewältigen, und viele hätten seither auch ihr Leben überdacht. Umso mehr sei nun klar, dass es eine "starke Seele" gebe, die die Union zusammenhalte.

Immer wieder kam sie auf die besondere Rolle der jungen Generation zu sprechen, die "gut ausgebildet, mitfühlend, verantwortlich für globale Probleme" sei, "reflektierend und bestimmt". Von dort kämen die Anstöße für das künftige Europa.

Innovativ und solidarisch

Es war dieser starke Akzent auf menschlichen Zusammenhalt, der sich wie ein roter Faden durch ihre Rede zog, die Sorge um eine gute Zukunft in einer Gesellschaft, die niemanden zurücklasse, innovativ und solidarisch zugleich sein müsse, die sich aber auch gegen Bedrohungen durch Viren wie Angriffe übelwollender Staaten schützen müsse.

Die Kommissionspräsidentin arbeitete sich durch die großen Themen. In Sachen Corona könne man "stolz sein". In Europa seien 700 Millionen Impfdosen verabreicht worden, ebenso viele habe die EU an 130 Staaten in der Welt gespendet. Sie kündigte an, vor allem in Afrika nachzulegen. Demnächst sollen weitere 250 Millionen Dosen geliefert werden.

Die größte Sorge für die EU-Staaten: "Wir müssen verhindern, dass es zu einer Pandemie der Ungeimpften kommt." So rasch wie möglich soll es nun mehr Gesundheitskompetenz auf EU-Ebene geben, bis 2027 ein mit 50 Milliarden Euro dotiertes Programm, auf dass es "nie wieder" zu einer neuen so großen Pandemie kommen werde.

"Next Generation"

Dann hob sie die Bedeutung des Wiederaufbauprogramms und des Green Deal, all der Maßnahmen in den Programmen unter dem Titel "Next Generation" hervor. Entgegen allem Pessimismus zeige sich schon jetzt, dass die Staaten in ihren Wiederaufbauprogrammen mehr in Klimaschutz und Digitalisierung investieren werden als vorgesehen.

Apropos Digitalisierung: Die Kommission wolle dem in der Krise sichtbar gewordenen Problem, dass Europa bei der Chip-Poduktion zur Gänze von China abhängig sei, mit einer breiten Initiative begegnen. Dies sei auch eine Frage der Sicherheit. Es gebe nichts Digitales ohne Halbleiter.

Einen breiten Teil ihrer Rede widmete von der Leyen Afghanistan. Es müssten die Lehren aus dem "allzu abrupten Abzug" gezogen werden. Bis Jahresende will die Kommission ein Abkommen mit der Nato zu einer neuen EU-Sicherheitspolitik präsentieren, die USA blieben führend. 2022 soll es einen Verteidigungsgipfel geben. Ziel sei die Schaffung eines gemeinsamen Lage- und Analysezentrums und ein Gesetz zur Cyberabwehr.

Zudem will die Kommission auf zahlreiche Gesetzesinitiativen setzen: zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen, ein Medienschutzgesetz; einen Vorstoß, dass Produkte aus Zwangsarbeit nicht auf den Binnenmarkt kommen. Und sie will, was Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedsländern betrifft, nicht nachgeben. Im Herbst dürfte die Kommission weitere Klageschritte gegen Polen und Ungarn setzen. (Thomas Mayer, 15.9.2021)