Bildungspolitik von unten? Bildungspolitik "von unten" hat in Österreich keine Tradition. Selten sind hierzulande Beispiele zu finden für zum Beispiel von Eltern initiierte oder beeinflusste Schulreformen. Seit der Einführung der Schulpflicht durch Kaiserin Maria Theresia war und ist Schulreform staatlich gesteuert "von oben". Die Bemühungen um einen gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern sind hier als seltene Ausnahme zu sehen.

Seit den 1970er-Jahren fordern kritische Expertinnen, Experten, Lehrerinnen, Lehrer und Eltern schulische Integration/Inklusion ein. Bestärkt wurde diese Bewegung durch die 1977 in Italien umgesetzte Abschaffung der Sonderschulen und Entwicklungen in Skandinavien nach dem dort gepflegten "Normalisierungs-Prinzip". Ab den 1980er-Jahren erkämpften in Österreich Eltern erste inklusive Schulversuchs-Klassen (in Burgenland, Steiermark und Tirol), sowie Mitte der 1990er-Jahre die gesetzliche Regelung schulischer Integration im Grund- und Sekundarschulbereich (15. und 17. SchOG-Novelle 1993/ 1996).

Die Geschichte dieser für das österreichische Bildungssystem historischen Schulreform "von unten" ist noch nicht geschrieben, obwohl sie vom Reformansatz her sehr bedeutsam ist. Inklusion überschreitet bei weitem die von der Sozialdemokratie seit den 1920er-Jahren geforderte Gesamtschule (die immer Sonderschulen neben der Gesamtschule förderte) und steht im Gegensatz zur an Bildungsprivilegien und meritokratischen Zielen (Integration durch Leistung) orientierten Organisation des österreichischen Bildungssystems.

Berg- und Talfahrt bei der inklusive Schul-Entwicklung.
Foto: Heribert Corn

Differenzierung versus Vielfalt

In den 1960er-Jahren bin ich persönlich als behindertes Kind nur durch Zufall und außergewöhnliche Unterstützung in und durch das Gymnasium gekommen. In meiner Gymnasial-Schulzeit wurde das herrschende Leistungsprinzip von Lehrern robust formuliert "wer net rein g'hört, der g'hört raus" (wer nicht hinein gehört, der gehört hinaus). Während meines Studiums an der Universität lernte ich die Standard-Funktionen von Schule (nach dem bekannten österreichischen Autor Helmut Fend), neben Qualifikations-Funktion und Sozialisationsfunktion fand sich unter anderem die Selektionsfunktion von Schule. Heute noch kann im Internet als Hilfe für Studierende, die die Thesen von Fend lernen müssen, gelesen werden, dass Schule auch als Rüttelsieb bei der Sortierung von Schülerinnen und Schüler für soziale Positionen zu sehen ist. Heute ist fachlich neutraler von Differenzierung die Rede. "Pädagogik der Vielfalt" und Chancengerechtigkeit fand und findet sich bei den Funktionen von Schule jedenfalls traditionell nicht.

Neue Entwicklungen

In den 1990er-Jahren erzielten die Elterninitiativen für schulische Inklusion unter der großen, rot-schwarzen Koalition Fortschritte in Richtung gemeinsamen Unterricht. SPÖ-Unterrichtsminister Rudolf Scholten und ÖVP-Familienministerin Maria Rauch-Kallat bildeten unter dem Eindruck persönlicher Erfahrungen eine Koalition in der Koalition unter den skeptischen Augen ihrer eigenen Parteien.

Minister Scholten forderte 1992 in einer Grundsatzerklärung die Abkehr von gesonderten Bildungseinrichtungen in Richtung einer Schule für alle Kinder: "In Abkehr von der bisher verfolgten Zielsetzung, in gesonderten Bildungseinrichtungen die beste mögliche Schule für behinderte Kinder zu entwickeln, sieht das Unterrichtsministerium die Entwicklung der Schule zu einer Schule unter Einschluß aller Kinder als zentrale Notwendigkeit zur Wahrung des Wohles behinderter wie nichtbehinderter Kinder." Wichtige legistische Schritte im Sinne der Kunst des in Österreich Möglichen wurden gesetzt, ein klarer Umbau des Schul-Systems in Richtung Inklusion nicht vorgegeben.

ÖVP-Unterrichts-Ministerin Elisabeth Gehrer korrigierte den Kurs 1996:  "Man sollte alle die Möglichkeiten nebeneinander sehen und es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die sich für die Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf enorm engagieren, die sich in der Integration, die sich in der Sonderschule engagieren und man sollte wirklich alle Möglichkeiten sehen und die auch gleichberechtigt nebeneinander besten lassen." Es ging nun weniger um das menschenrechtlich begründete "Wohl der Kinder" in ihrer Vielfalt, es sollte die Perspektive der Lehrerinnen und Lehrer, in der Realität, der Lehrergewerkschaft, gestärkt werden.

Wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, internationale Erfahrungen und Entwicklungen, Vergleichsforschung und die auch in Österreich existierenden und evaluierten Erfahrungen mit der Praxis inklusiver Pädagogik spielten bei bildungspolitischen Entscheidungen damals bis heute keine bedeutsame Rolle.

Stagnation der inklusiven Schul-Entwicklung

Seit den 2000er-Jahren stagniert die inklusive Schul-Entwicklung, parallel mit der von Wolfgang Schüssel und Jörg Haider initiierten politischen Wende nach rechts. Sowohl Sonderschulklassen als auch integrative/inklusive Klassen wurden gefördert. In einem regional extrem heterogenen Prozess kam es zu einer starken Ausweitung der Zuschreibung "Sonderpädagogischer Förderbedarf". Die Quote der Kinder in Sonderschulen in Relation zur Gesamtzahl an Schülerinnen und Schüler, die sich bis zur Jahrtausendwende verkleinert hatte, erhöhte sich danach wieder auf einen Wert, der inzwischen wieder ähnlich hoch ist wie zu Beginn der 1990er-Jahre. Eine erstaunliche Tal- und Bergfahrt.

Zentrale Akteure der Schulentwicklung sind auch die Bundesländer. Es wird immer wieder argumentiert, dass die Wahlmöglichkeit zwischen Sonderschule und Regelschule mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgrund bundesgesetzlicher Regelungen bestehen muss (Schulpflichtgesetz). Wie viele Sonderschulen es aber tatsächlich gibt und wo diese neu eingerichtet  werden, dabei haben die Bundesländer Einfluss und landesgesetzlich Steuerungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel der Tiroler Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention festhält (2015). Dementsprechend stellt sich die Lage der schulischen Inklusion in Österreich regional extrem unterschiedlich dar.

Dreieck Bund, Länder und Interessensvertretungen

Bemerkenswert bis typisch für österreichische Realpolitik ist, dass die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den österreichischen Nationalrat (2008), die schulische Inklusion als Menschenrecht deklariert, in der ganzen Entwicklung kaum Einfluss hat. Im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich 2012-2020, war die Umsetzung schulischer Inklusion über inklusive Bildungsregionen vorgesehen. Dieses Vorhaben ist gescheitert, die inklusiven Bildungsregionen gibt es nicht mehr. Dies auch trotz Überprüfung des Bundesrechnungshofes (2019) und Drängen des Rechnungshofes auf Umsetzung von inklusivem Unterricht. Die Evaluation des nationalen Aktionsplans (2020) hat all dies festgehalten.

Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf verwies im September 2016 in einem Kommentar zur UN-Behindertenrechtskonvention deutlich auf den Weg, der bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Richtung Inklusion zu gehen ist: Kein Wahlrecht mehr auf schulische Segregation. Um nicht den einheitlichen Weg der Umstellung wie in Italien 1977 zu gehen, könnte ein Aufnahmestopp in Sonderschulen und die systematische und verpflichtende Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung in den Regelschulen einen guten Umstieg ermöglichen. Ein Aufnahmestopp würde über den Zeitraum einer Schülerinnen- und Schülergeneration, das heißt über circa zehn Jahre, zur entscheidenden Reduktion des österreichischen Sonderschulwesens führen.

Österreich geht diesen von den Elterninitiativen schon 1998 und von der Österreichische Unesco-Kommission 2019 geforderten Weg nicht. Im Dreieck der Interessen von Bund, Ländern und Interessensvertretungen – in diesem Fall der mächtigen ÖVP-Lehrergewerkschaft – haben Grundrechte, wie die in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierten Rechte, wenig Umsetzungschancen. An der Existenz der Sonderschulen wird versteinert festgehalten, Ressourcen- und Kompetenztransfer in Richtung inklusive Regelschulen wird abgelehnt.

Aber wer weiß, Entwicklungen verlaufen nicht immer linear und sind nur begrenzt prognostizierbar, das ist aus der inklusiven Pädagogik bekannt. Momentan läuft eine von vier Nationalratsabgeordneten (von SPÖ und Neos) unterstützte parlamentarische Petition, initiiert von Lehrenden an Pädagogischen Hochschulen. Es geht darum, die Benachteiligung der Finanzierung schulischer Inklusion gegenüber Sonderschulen abzuschwächen. Am 7.Oktober wird die Petition mit der Diskussion der vom Petitionsausschuss eingeholten und öffentlich einsehbaren Gutachten behandelt. Es wird sich zeigen, ob alles mit mehr oder wenig freundlichen Worten zu den Akten gelegt oder zur konstruktiven Weiterarbeit an den Unterrichtsausschuss des Parlaments weitergeleitet wird. Die zur Petition vorliegende Stellungnahme des Bildungsministeriums unter Heinz Faßmann stimmt diesbezüglich nicht optimistisch. (Volker Schönwiese, 17.9.2021)

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