Wien – Über "Strategien des Widerstands" diskutiert Maria Ressa am Freitag beim Weltkongress der Pressefreiheitsorganisation IPI. Nach Wien kann die 57jährige Gründerin und Herausgeberin des unabhängigen philippinischen Medienportals "Rappler" nicht kommen – ein Gericht verbietet ihr die Ausreise.

20 Verfahren

An die 20 Verfahren hat das Regime von Diktator Rodrigo Duterte gegen Ressa und Rappler angestrengt, von Vorwürfen der Steuerhinterziehung bis zu einem – sehr konstruierten – Vorwurf der Verleumdung. Duterte hat Ressa und ihre Kolleginnen bedroht und verleumdet, Onlinekampagnen über Facebook greifen sie mit Hassbotschaften und Verleumdung an. Doch Ressa und ihr "Rappler"-Team machen unbeirrt weiter.

"Die Demokratie in aller Welt zerstören"

Im STANDARD-Interview warnt die Journalistin und Medienmacherin vor den Folgen der Social Networks und ihrer Algorithmen: "Wenn wir sie nicht regulieren, werden die billigen Cyberarmeen auf Social Media die Demokratie in aller Welt zerstören."

Ressa ist in den USA aufgewachsen, sie hat die US-Staatsbürgerschaft und begann 1987 beim Nachrichtensender CNN International als Journalistin. Ab 1988 leitete sie das CNN-Büro in Manila, ab 1995 jenes in Jakarta in Indonesien. Sie spezialisierte sich als Investigativreporterin von CNN in Asien auf Recherchen zu terroristischen Netzwerken. 2004 bis 2010 war sie Nachrichtenchefin beim philippinischen TV-Sender ABS-CBN, dem Dutertes Regime 2020 die Sendelizenz entzogen hat.

2011 begann Ressa mit Kollegen "Rappler" als Social-Media-Nachrichtenkanal, 2012 wurde es eine – weiterhin sehr stark über Social Media präsente – Online-Nachrichtenplattform.

Sie ist eine von 330 Nominierten für den Friedensnobelpreis 2021, und sie stellt gerade ein Buch bei Penguin Books fertig, Titel: "How to stand up to a Dictator".

Kennen Sie keine Furcht, Maria Ressa?

Bild nicht mehr verfügbar.

Maria Ressa im Februar 2019 nach einer Nacht in Haft wegen Vorwürfen der Online-Verleumdung – sie hatte den Link zu einer Story von 2002 vertwittert.
Foto: AP / Bullit Marquez

STANDARD: Sie und Ihr Medium "Rappler" werden seit Jahren – insbesondere von der Regierung – massiv geklagt, bedroht, bekämpft: Kennen Sie keine Furcht?

Ressa: Doch, natürlich. Rodrigo Duterte ist seit Mitte 2016 Präsident, und 2016 begannen die Attacken der Regierung auf uns, auch mithilfe der Möglichkeiten, die Facebook und andere Medien Diktatoren bieten. Ich bin jetzt seit 35 Jahren Journalistin, und ich wusste immer, was ich tue. Die Standards und die Ethik des Journalismus haben so lange keine Bedeutung, bis sie auf die Probe gestellt werden. Dann muss man zu ihnen stehen und sie leben.

STANDARD: Die Regierung versuchte Ihr Medium "Rappler" mit Vorwürfen der Steuerhinterziehung anzugreifen und womöglich mundtot zu machen, ein international beliebtes Instrument autoritärer Regime gegen unabhängige Medien.

Ressa: Wir waren erst erstaunt darüber, aber haben unsere Arbeit unbeirrt fortgesetzt. Als sie 2018 versuchten, uns zuzusperren, war ich schockiert. Unsere Anwälte rieten uns zum Stillschweigen über diese Angriffe. Aber wir waren dermaßen empört, dass wir mit einer Pressekonferenz darüber an die Öffentlichkeit gingen. Unsere Anwälte waren zunächst schockiert, aber es war die richtige Entscheidung. Wenn wir nicht dagegen aufstehen, dann sind wir nicht mehr, was wir waren – so, wie uns auch diese "neue Normalität" von Covid verändert hat.

STANDARD: Aber Ihnen drohte Haft.

Ressa: Ich hielt es nicht für möglich, dass ich ins Gefängnis komme – bis April 2019. Da war ich auf einem von Trial Watch veranstalteten Podium mit Jason Rezaian von der "Washington Post", der 544 Tage im Iran eingesperrt war, mit Mohamed Fahmy, einem früheren Al-Jazeera-Journalisten, der in Ägypten inhaftiert war. Oh mein Gott, dachte ich, ich habe Angst. Bis auf eine Nacht in Haft war ich noch nie im Gefängnis. Es wird schlimmer werden, und ich musste mich fragen: Schaffe ich das?

Maria Ressa schließt gerade die Arbeiten an ihrem Buch "How to stand up to a Dictator" ab, es erscheint bei Penguin. Books.
Foto: Penguin Books

STANDARD: Wie geht man damit um?

Ressa: Was immer man fürchtet: Man muss die Angst annehmen und damit umgehen lernen. Ich schreibe gerade an einem Buch, das mir hilft, das zu verarbeiten. Eine Katharsis, wenn man so will. Ich gehe noch einmal durch viele Erinnerungen. Als Reporter steckt man die Gefühle weg, und selbst dann, wenn man etwas Übles erlebt, versucht man einen klaren Kopf zu bewahren. Aber: Nach fünf Jahren Duterte sind wir noch immer hier, und wir machen weiter unseren Job. Wir haben gerade erst eine Serie über Korruption mit Regierungsgeldern für Pandemiebekämpfung veröffentlicht, die den Senat beschäftigt. Du weißt nicht, wer du bist, bis du dich gezwungen siehst, genau das zu verteidigen.

STANDARD: Sie stellen gerade ein Buch fertig. Ich nehme an, es wird sowohl um den philippinischen Diktator Duterte wie auch um Facebook gehen – und das, was sie der Demokratie antun.

Ressa: Wir treten auf gegen all das, was Duterte und Facebook ungestraft tun können. Damit beschäftigt sich das Buch. Aber es beschäftigt sich auch sehr persönlich mit der Welt, in der wir heute leben. Der Welt eines völlig anderen Ökosystems, wie wir uns informieren. Und einer Welt, in der wir Fakten und Fiktion nicht mehr klar unterscheiden können.

STANDARD: Wo stehen all die Angriffe, Drohungen und Verfahren des Duterte-Regimes gegen Sie und "Rappler" heute?

Ressa: Binnen zwei Jahren hat die Regierung der Philippinen zehn Haftbefehle gegen mich erlassen, es gab neun Klagen und Verfahren gegen "Rappler" von der Regierung und zwei Unternehmern. All diese Verfahren hatten die Unterstützung des Justizministeriums. Wir haben alle vor Gericht bekämpft, und wir tun das weiterhin. Ich wurde am 15. Juni 2020 wegen Online-Verleumdung verurteilt, weil ich einen Link über einen Bericht von 2002 vertwitterte. Das wäre nach philippinischem Recht verjährt, wenn es Verleumdung gewesen wäre, aber wegen einer späteren sprachlichen Korrektur des Artikels sah das Gericht die Story als neu publiziert und nicht als verjährt an. Bis zu dem Urteil, das wir bekämpfen, brauchte und bekam ich vom Gericht Genehmigungen für Auslandsreisen. Seither darf ich nicht mehr ins Ausland reisen.

STANDARD: Deshalb können Sie am IPI-Weltkongress in Wien am Freitag nur über Videoschaltung teilnehmen.

Ressa: Ich kämpfe gerade beim Höchstgericht der Philippinen für mein Recht zu reisen. Das Verbot widerspricht der Verfassung. Wenn ich eine Kaution hinterlege, müsste ich reisen können. Aber immerhin: Zwei von neun Cyberverleumdungsklagen sind inzwischen zurückgenommen worden. Bleiben noch sieben. Fünf der Verfahren wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung dürften Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres entschieden werden. Wir müssen erst einmal schauen, dass wir es bis Mai 2022 schaffen.

STANDARD: Dann sind Präsidentenwahlen, und Duterte kann laut Gesetz nicht noch einmal antreten. Aber er wird doch nicht so einfach abgehen?

Ressa: Er selbst kann nur einmal sechs Jahre Präsident sein. Aber es gibt Gerüchte, dass seine Tochter kandidiert. Einer seiner engsten Vertrauten kam 2019 in den Senat und soll für das Präsidentenamt kandidieren – mit Duterte als Vizepräsident.

STANDARD: Das kennt man doch so ähnlich von Putin und Medwedew in Russland.

Ressa: Diktatoren in aller Welt haben dieselben Drehbücher, dieselben Strategien. Auch weil das Ökosystem der Information mit Social Media ein globales ist. Der größte Nachrichtenkanal sind längst nicht mehr die klassischen Medienhäuser, das sind Social Media, Facebook und Youtube. Und die Taktiken der Diktatoren dort funktionieren. Russland hat das vor unser aller Augen in der Ukraine gezeigt, auf der Krim. Im September 2020 hat Facebook chinesische Accounts gesperrt, die mich und "Rappler" attackierten, die Stimmung machten für die Kandidatur von Dutertes Tochter und die mit gefakten Fotos den US-Wahlkampf beeinflussen wollten.

Geopolitische Mächte liefern sich ein Informations- oder besser Desinformationsrennen um unsere Wahrnehmung der Welt. Das macht mir Angst. Diese Manipulation ist die größte Gefahr für die Menschheit. Wir sind in einem globalen Kampf für Fakten, für die Wahrheit. Es gibt keinen Sinn ohne Fakten. Wenn wir keine gemeinsame Wahrnehmung der Welt haben, stirbt die Demokratie.

STANDARD: Was kann man dagegen tun? Facebook und Youtube machen mit diesen Algorithmen viel Geld.

Ressa: Wenn Facebook das reparieren wollte, könnte es zum Beispiel die sehr konkreten Empfehlungen der internationalen Arbeitsgruppe zu "Infodemics" umsetzen. Aber sie machen damit einfach zu viel Geld, diese Funktionsweisen sind Teil ihres Geschäftsmodells. Es gibt doch sehr konkrete Beschränkungen und Verbote für Tabakkonzerne. Wenn man erkennt, dass ein Unternehmen, ein Angebot Userinnen und Usern schaden kann, müssen Gesetzgeber im gesellschaftlichen Interesse Regeln und Beschränkungen vorgeben.

Ich hoffe sehr auf die EU und die USA. Was am 6. Jänner beim Sturm auf das Kapitol passierte, war das Werk des Silicon Valley. Gewalt in der digitalen Sphäre wird zur realen Gewalt. Das formt und prägt Menschen in aller Welt. Das spielt mit unserer Biologie, um unser Menschsein zu bestimmen – und das ist gemeingefährlich.

STANDARD: Also braucht es rechtliche Maßnahmen, das klingt nicht nach viel Hoffnung in die gesellschaftliche Verantwortung von Mark Zuckerberg oder den Alphabet-Bossen. Facebook hat sich immerhin ein "Oversight Board" mit großen Namen aus Medien, Politik und Rechtskunde gegeben als eine Art Höchstgericht.

Ressa: Ich bin eine der Betreiberinnen des "Real Facebook Oversight Board", gegründet 2020 von der gemeinnützigen britischen Organisation The Citizens, um gegen Desinformation, Gewalt und Unterdrückung der Stimmen von Minderheiten vor der US-Wahl aufzutreten. Beantwortet das die Frage?

STANDARD: Durchaus, aber welche Wirkung hat das entfaltet?

Ressa: Facebook hat auf unsere sehr einfachen Forderungen reagiert. Sie haben die Sichtbarkeit von solider, qualitätsvoller Information erhöht – das können sie ganz einfach, und haben es nach dem Sturm auf das Kapitol auch umgesetzt. Inzwischen haben sie die Priorität wieder heruntergesetzt – das schlug sich in den Umsätzen von Facebook nieder. Die Plattformen müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht die reale Welt zerstören dürfen, um Geld zu machen.

STANDARD: Und die Covid-Pandemie verstärkte die Wirkung der Algorithmen wie das Wirken autoritärer Regime noch zusätzlich.

Ressa: Die Philippinen werden mit Angst und Gewalt regiert. Präsident Duterte sagt recht offen, dass das seinen Führungsstil ausmacht. Er glaubt, dass die Philippiner diszipliniert werden müssen. Die Lockdowns in der Pandemie spielen ihm da in die Hände. Seit Mai 2020 befinden wir uns praktisch im Lockdown. Da gesellt sich zum Gefühl der Angst jenes der Isolation. Einer Pandemie kann man doch am besten mit einem gesellschaftlichen Schulterschluss begegnen. Aber Desinformationskampagnen, ob aus Russland oder China oder dem Iran, spalten mit Covid die Gesellschaft. Das hätte mit professionellen, verantwortungsvollen Journalisten nicht funktionieren können. Wir sind mit der Öffentlichkeit verantwortungsvoll umgegangen. Heute stellen Tech-Plattformen Öffentlichkeit her. Wenn wir sie nicht regulieren, werden die billigen Cyberarmeen auf Social Media die Demokratie in aller Welt zerstören. Wir stehen an einem entscheidenden Punkt für unsere Existenz. Als ich Journalistin wurde, berichteten wir über den Machtverlust autoritärer Regime in Südostasien und Demokratiebewegungen etwa auf den Philippinen 1986. Heute stehen wir vor Mechanismen, die in aller Welt den Faschismus zurückbringen.

STANDARD: Kann es wirklich sein, dass ein wesentlicher Teil der Menschen kein Interesse an Fakten hat, an einem möglichst wahrheitsgetreuen Bild der Welt? Wie erreicht man sie?

Ressa: Ich habe früher die größte Newsorganisation der Philippinen gemanagt, die Redaktion des TV-Senders ABS-CBN, dem Dutertes Regime nun im Mai 2020 die Sendelizenz entzogen hat. Schon in dieser Redaktion mussten wir erkennen: Nur ein Prozent der 100 Millionen Philippiner interessiert sich für Nachrichten – wenn es nicht gerade einen Taifun oder andere Katastrophen gibt.

STANDARD: Auf den Philippinen ist Facebook praktisch das Internet – und eher nicht die ideale Plattform für faktenorientierten Journalismus.

Ressa: Social Media spielen mit unseren Instinkten. Da geht es um schnelle Reaktionen. Sie stimulieren unsere Emotionen, vor allem Wut und Hass. Sie versuchen rationales Denken möglichst zu umgehen. Und weil Wut und Hass besondere Emotionen und damit Interaktionen hervorrufen und die Menschen vor dem Schirm halten, werden sie von den Algorithmen gefördert und verbreitet. Viel mehr als – aus Plattformsicht trockene, also weniger vermarktbare – Fakten. Lügen verbreiten sich auf Social Networks vielfach schneller als Fakten. Sie sind wie ein Virus, und das wird man nicht einfach wieder los. Die Menschen, die im Jänner das US-Kapitol stürmten, waren überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns.

STANDARD: Noch ein Anlauf: was tun?

Ressa: Wie nach dem Zweiten Weltkrieg muss die Welt zusammenkommen und neue Regeln finden. Das Ökosystem der Social-Media-Plattformen vermehrt die Macht von Populisten und Autoritären, und sie nutzen diese Macht und dieses Ökosystem, um ihre Macht zu konsolidieren. Das passiert auf den Philippinen, es passiert in vielen anderen Ländern. Es geht um ein fundamentales Prinzip: Die Menschen brauchen Fakten, ohne sie gibt es keine Wahrheit, kein Vertrauen. Ohne Fakten, Wahrheit, Vertrauen haben wir keine gemeinsame Wirklichkeit.

Ich bin Journalistin geworden, weil ich an die Macht der Information glaubte. Information ist tatsächlich Macht, aber heute zeigt sich, wie einfach diese Information verändert und manipuliert werden kann. Social Media sind zu einem Instrument geworden, unser Verhalten zu manipulieren.

STANDARD: Das Duterte-Regime hat der größten und unabhängigen Newsorganisation der Philippinen einfach die Sendelizenz entzogen – und damit ihren wichtigsten Verbreitungskanal. Wird Ihr Medium "Rappler" den massiven Angriffe des Regimes standhalten können?

Ressa: Sie haben ihre Lizenz verloren und damit den Großteil ihrer Einnahmen – aber sie machen online weiter. Wir bestimmen heute die Zukunft von "Rappler": Auch wenn wir Angst haben, auch wenn es Angriffe gibt – wir machen weiter unseren Job als Journalisten, die berichten, aufklären, vom Regime Rechenschaft verlangen über sein Handeln. Nur so können wir unsere Zukunft und das Vertrauen unseres Publikums sichern. (Harald Fidler, 16.9.2021)