Früher war Spazierengehen einfacher. Da spazierte Elizabeth Toth drauflos, genoss Luft und Ausblick – und erfreute sich an der blühenden, malerischen oder sonst wie schönen Naturkulisse ringsum: schroffe Bergketten, malerische Wälder, Seen und Flüsse, Blumen am Wegesrand. Das ist lange her.

Denn die Wienerin hat etwas verlernt: das Wegschauen. Das Ausblenden. Toth sieht, was andere nicht zu bemerken perfekt beherrschen: den Müll der anderen. Verpackungsfolien. Getränkedosen. Flaschenverschlüsse. Zigarettenstummel. Oder Plastikflaschen. Die vor allem. "Wer einmal bewusst hinschaut, kann nicht mehr wegschauen", sagt die 37-Jährige. Manchmal beneide sie ihre Mitmenschen fast um deren selektive Blindheit.

Altbekanntes Problem: Tschickstummeln
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Elizabeth Toth wird am Samstag auf Höhe der U6-Station an der Neuen Donau in Wien stehen. Sie wird Plastiksäcke, Gummihandschuhe und Greifzangen verteilen – und sich über den Zulauf zu ihrer Aktion nur bedingt freuen: Toth ist Gründerin der Green Heroes Austria. Am Samstag ist die NGO für die Organisation der österreichischen Aktivitäten zum World Cleanup Day verantwortlich. Bei Toth haben sich rund 80 Freiwillige angemeldet. Angemeldet, um achtlos in die Gegend gepfefferten Müll einzusammeln.

Die freiwillige MA 48

Den World Cleanup Day fand erstmals 2008 in Estland statt. Mittlerweile gibt es ihn in 165 Ländern, fast elf Millionen Freiwillige machen mit. In Österreich sammelten im Vorjahr – bei Cleanup-Aktionen in sieben Bundesländern – 654 Freiwillige rund 4,7 Tonnen Müll.

Neu im Müllbild: Der Mund-Nasen-Schutz
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Grund zum Jubeln? Jein: Toths Ehrenamtliche rücken nicht nur an diesem Tag aus – und sie sind längst nicht die Einzigen, die mit "Cleanups" wohl mehr zum Bewusstmachen des Problems als zu dessen Lösung beitragen. Obwohl doch etliche Tonnen Dreck bei Cleanups aus der Natur geholt werden.

Trumm um Trumm

Wie viele? "Pro Cleanup kommen allein bei uns 16 bis 20 Kilo zusammen", sagt Nina Kandler. In Gummistiefeln steht sie nahe der Reichsbrücke knöcheltief in der Neuen Donau und holt mit einer Greifzange Trumm um Trumm aus dem seichten Wasser, während ihre Kollegin Veronika Leidinger mit einem scharfkantigen Flaschenverschluss kämpft, der sich am Ufer halb, aber auch fest in den Boden gefressen hat.

"Ozeankind" steht auf den Sweatern der beiden Frauen, die der erste – kleine – Österreichstützpunkt der gleichnamigen deutschen Cleanup-NGO sind. Rivalität mit andern Organisationen gibt es nicht: "Es ist mehr als genug Müll für alle da." Und das, betonen sie, sei keine Kritik an den kommunalen Müllsammlern: "Die MA 48 macht einen tollen Job – trotzdem bleibt zu viel übrig."

Auch organisches Material, sollte man nicht achtlos wegwerfen.
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Aber: Wie viel wirklich? Greenpeace sprach Ende August, als 20 Freiwillige gemeinsam mit Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) an einem Montagmorgen allein am Donaukanal und auf der Insel binnen kürzester Zeit 15 Säcke einschlägigen Freizeitmülls einsammelten, von jährlich 5.000 Tonnen in Österreich. Dennoch lässt sich Littering, das achtlose Wegwerfen von Müll, nur schwer quantifizieren: Das Sammeln findet zu punktuell, zu unregelmäßig statt.

Ein Viertel ist Plastik

Da da aber immer die gleichen Dinge gefunden werden, ist eine qualitative Auswertung möglich – und repräsentativ. Die besorgt die 2017 von Global 2000 gelaunchte "Dreckspotz"-App. 2020 wurden via Dreckspotz 105.800 Stück Littering-Abfälle erfasst. Bei gut einem Viertel handelt es sich um Plastikteile. Zum überwiegenden Teil PET-Flaschen und andere Einwegverpackungen. 13 Prozent des Mülls waren aus Metall – auch hier war der Anteil an Einweggebinden (also Getränkedosen) und -verschlüssen signifikant. Dazu kamen Verpackungsfolien. Jeweils im Zehn-Prozent-Bereich rangieren Papier, Glas und Keramik.

Bei gut einem Viertel der Littering-Abfälle handelt es sich um Plastikteile. Zum überwiegenden Teil PET-Flaschen und andere Einwegverpackungen.
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Da Littering aber auch wegen der großflächigen Verteilung und somit Präsenz des Mülls in der Natur ein Problem ist, wertet Global 2000 auch Stückzahlen aus. "Da liegen Zigarettenstummel uneinholbar an der Spitze", sagt Global-Rohstoffexpertin Lena Steger. Jeder einzelne ist eine Ökobombe: Die in ihnen enthaltenen Giftstoffe – Blei, Arsen und andere Schwermetalle, aber auch Dioxin – vergiften pro Kippe mindestens 40 Liter Grundwasser. In Gewässern sind sie für die Fische im Umfeld ein Todesurteil.

Sichtbarkeit schafft Bewusstsein

Deshalb zeigt auch Robert Mach nicht nur auf spektakuläre Funde ("Ölfässer, E-Scooter und Fahrräder"), die die Taucher der Meeresschutzorganisation Sea Shepherd bei Cleanups neben Unmengen an Plastikflaschen und Getränkedosen bergen: In einem Drei-Stunden-Cleanup komme man stets auf über 5.000 Kippen.

Ein Pfandsystem für Einwegflaschen lautet die Forderung der "freiwilligen Müllabfuhr" und Umweltschutzorganisationen.
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Und mit dem Finger auf die achtlosen Wegschmeißer von Einweggebinden und anderem Dreck zu zeigen, griffe aber zu kurz, betont Mach. Und ist sich da mit allen Akteuren und Akteurinnen der Szene einig: Natürlich helfen "Cleanups", "Ploggings" (die vom Schweden Erik Ahlström 2016 in Stockholm "erfundene" Kombination von Laufen und Mülleinsammeln) oder "Yoga-Cleanups" ("Clean up, dann Yoga – über Influencerinnen erreicht man so ganz neue Zielgruppen", so Toth), die Landschaft zu "putzen". Vor allem schafft ihre Sichtbarkeit aber Bewusstsein. Und dem folge – hoffentlich – eine Verhaltensänderung: das Vermeiden.

Pfandsystem

Wobei es da nicht nur um "korrektes" Wegwerfen gehe (in Wien gibt es 21.000 Papierkörbe im öffentlichen Raum), sondern um das "Wegwerfgut" – die Einwegverpackung. Also die PET-Flasche und die Getränkedose, die achtlos liegengelassen oder ins Gebüsch geworfen werden. Also fordern Kandler und Leidinger, Mach, Greenpeace und Global 2000 unisono "endlich auch in Österreich" ein Pfandsystem für Einweggebinde: Es gehe, sagt Elizabeth Toth, darum, den Cleanup gar nicht erst nötig zu machen. Denn vorher, weiß Toth, brauche sie davon, ob sie je wieder lernen könne, beim Spazierengehen manche Dinge einfach nicht zu sehen, "nicht einmal zu träumen". (Thomas Rottenberg, 17.9.2021)