Ikone: Susan Meiselas "Molotow Man".

Foto: Susan Meiselas

Es ist nicht das einzelne Foto, das diese Fotografin interessiert. Es sind Fotoserien, um die das langjährige Schaffen von Susan Meiselas kreist. Langzeitbeobachtungen, wie das Coming of Age einer Gruppe weiblicher Teenager im Little Italy der 1970er-Jahre in New York. Eine der ersten Aufnahmen der US-Fotografin zeigt die Mädels noch als Gören mit überdimensionalen Kaugummiblasen vor dem Mund. Einige Zeit später sind die Bubblegums Zigaretten gewichen.

Heute, erzählt Meiselas, die für die Ausstellung Mediations im Kunsthaus Wien angereist ist, leben die Mädels von damals in den Vororten von New York City. Kommen sie in die Stadt, dann klingeln sie schon einmal an der Tür der zur Freundin gewordenen Fotografin.

"Street-Photography" würde man heute die Art und Weise nennen, wie Meiselas die italienischstämmigen Mädchen aus und in der Prince Street fotografiert hat. Anders aber als etwa eine Diane Arbus, der es um das perfekte, aufsehenerregende Bild ging, interessiert sich Meiselas für das soziale oder politische Umfeld, in dem sich die Porträtierten bewegen. Fotos sind zwar ihr zentrales Medium, wichtig sind der Magnum-Fotografin aber genauso Text- oder Tondokumente.

Engagierte Fotografie

Meiselas bewegt sich in der Tradition einer "engagierten Fotografie". Ihr erstes größeres Fotoprojekt widmete sie ihren Mitbewohnern in einem Wohnheim in der Irving Street. Neben dem jeweiligen Porträt, auf dem sich die Nachbarn in der Lieblingsecke ihres Zimmers ablichten ließen, hängen handschriftliche Beschreibungen, in denen die Menschen selbst zu Wort kommen.

Mit einem ähnlichen Zugang widmete sich die frischgebackene Harvard-Absolventin Stripperinnen auf den Jahrmärkten von New England. Mit viel Empathie und ungewohntem Blick setzte sich Meiselas mit deren Lebensbedingungen auseinander und versucht die Sichtweise der Dargestellten selbst zu verstehen. Das dürfte ihr nicht immer leicht gefallen sein, als junger Feministin war ihr die Problematik dieses Gewerbes natürlich bewusst.

Kein erotischer Blick

Der fotografische Blick auf die "carnival strippers" ist kein sexualisierender, sondern einer, der die Natürlichkeit und Ungezwungenheit der Körper feiert. Auf einem Bild in der zweigeschoßigen Ausstellung ist die Fotografin hinter ihrer Hasselblad zu sehen, sie unter vielen Stoffschichten versteckt, die Stripperin vor ihr beinahe nackt.

Es ist dieses Verstehenwollen über soziale oder geografische Grenzen hinweg, das die 1948 in Baltimore geborene Fotografin antreibt. Als die Sandinisten in Nicaragua gegen den damaligen Präsidenten rebellierten, setzte sich Meiselas ins Flugzeug und verbrachte in den Folgejahren und -jahrzehnten immer wieder Zeit im Land.

Einige der Aufnahmen, allen voran der Molotov Man, das Bild eines Revolutions-Feschaks, wurden ikonisch und waren bald auf T-Shirts oder Streichholzschachteln zu finden. Eine ganze Wand widmet man im Kunsthaus dem Mann mit dem Sturmgewehr, eine andere der Rezeption von Meiselas Nicaragua-Bildern in verschiedenen Medien.

Fotos sind für Meiselas Anstoß zur weiterführenden Auseinandersetzung oder wie im Fall ihrer Dokumentation häuslicher Gewalt oder des Genozids in Kurdistan ein Stachel im Fleisch der Betrachter. Hinter den Porträtierten tut sich so eine ganze Welt auf.
(Stephan Hilpold, 17.9.2021)