Eineinhalb Jahre nach Ausbruch des Clusters in Ischgl beginnt am Landesgericht Wien der Amtshaftungsprozess gegen die Republik. Im Fokus steht die chaotische Abreise nach Verhängung der Quarantäne über das Paznauntal.

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Es waren wenige entscheidende Tage, die nun Schritt für Schritt rekonstruiert werden müssen – Stunden und Minuten, deren juristische Aufarbeitung Jahre dauern könnte. Als im März 2020 kurzerhand eine Quarantäne über Ischgl und das Tiroler Paznauntal verhängt wurde, verließen Urlauber und Saisonarbeiter fluchtartig den Ort. Die Folge war ein Abreisechaos, in dem sich zahlreiche Menschen mit dem damals neuartigen Coronavirus ansteckten.

Hätte man diese Infektionen verhindern können? Trägt der Staat die Verantwortung für die Erkrankung und den Tod von Menschen? Das sind Fragen, die nun vor Gericht geklärt werden müssen. Denn Betroffene verlangen vom Staat Schadenersatz für die erlittenen Vermögens- und Gesundheitsschäden. Unter ihnen auch die Hinterbliebenen des ehemaligen Journalisten Hannes Schopf, der infolge einer Corona-Erkrankung am 10. April 2020 verstarb. Heute, Freitag, beginnt im Wiener Justizpalast ihr Prozess gegen die Republik – der erste von vielen, die folgen werden.

"Missmanagement"

Schopf, der unter anderem zehn Jahre lang Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Furche" war, hatte im März 2020 Urlaub in Ischgl gemacht. Am 13. März 2020 reiste er wie viele andere unter chaotischen Bedingungen in einem überfüllten Bus ab. Die Reisenden seien eng beieinandergestanden, die Fahrzeuge nur langsam vorangekommen – Umstände, die letztlich zur Infektion von Schopf geführt haben sollen. Für die Hinterbliebenen ist die Sache klar: Hätten die Behörden rechtmäßig und unverzüglich gehandelt, wäre ihr Angehöriger nie erkrankt und noch am Leben.

Die Kläger verlangen von der Republik Ersatz für Schmerzengeld, Trauerschäden und Begräbniskosten – insgesamt rund 100.000 Euro. Schopf habe sich aufgrund des "katastrophalen Missmanagements der zuständigen Behörden" infiziert, heißt es in der Klage. Skigebiete, Seilbahnen und Tourismusbetriebe hätten geschlossen, Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt werden müssen. All das hätten die Behörden allerdings unterlassen – teils aus grober Fahrlässigkeit und teils auf Druck von Lobbyisten aus der Seilbahnwirtschaft.

DER STANDARD

"Chaotische Abreise"

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) habe durch die vorzeitige Ankündigung der Quarantäne über das Paznauntal in seiner Pressekonferenz am 13. März 2020 die "chaotische Abreise von in- und ausländischen Touristen verursacht". Auch die Ischgl-Kommission, die bereits im Oktober 2020 ihren Bericht vorlegte, sprach von "folgenschweren Fehleinschätzungen" der lokalen Behörden, "unwahren" Informationen des Landes Tirol an die Bevölkerung und von einem "Kommunikationsfehler" des Bundeskanzlers.

Die Finanzprokuratur, die als Anwältin der Republik die Gegenseite vertritt, sieht das naturgemäß anders. Schopf habe sich trotz der schon Ende Februar in den Medien bekannt gewordenen ersten Covid-Fälle nach Ischgl begeben – und das "entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung und der allgemeinen Kenntnis, dass der Skiort Ischgl international besucht wird". Der tragische Tod sei "ausschließlich auf eine weltweit grassierende Pandemie" und eine "nicht vollends zu verhindernde Infektion mit dem Covid-19-Virus zurückzuführen".

Beweisfragen

Dass sich Schopf überhaupt in Ischgl infizierte, sei laut Finanzprokurator nicht sicher. Vor Gericht dürfte der Beweis, wann und wo die Ansteckung genau erfolgte, tatsächlich schwierig werden. Aus Sicht des Verbraucherschutzvereins (VSV), der die Betroffenen vor Gericht unterstützt, reiche im Fall einer "Schutzgesetzverletzung", wie sie hier vorläge, allerdings eine "Indizienkette" aus.

Die erste Gerichtsverhandlung heute, Freitag, ist der Auftakt für zahlreiche Prozesse, die in den kommenden Wochen und Monaten folgen werden. Laut VSV liegen derzeit 15 weitere Klagen bei Gericht. Rund 40 Aufforderungsschreiben wurden der Finanzprokuratur bisher vorgelegt, 60 Fälle warten derzeit auf die Zusage von Rechtsschutzversicherungen. Peter Kolba, Obmann des VSV, rechnet mit "bis zu 3000" einzelnen Ansprüchen, die gegen die Republik erhoben werden.

Prominente Zeugen beantragt

Am ersten Prozesstag soll entschieden werden, ob Verfahren zusammengelegt werden können. Denn die Kläger nominierten zahlreiche Zeugen – darunter Tiroler Landesbedienstete, Bundeskanzler Kurz und den ehemaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). Gibt die Richterin diesen Beweisanträgen statt, müssten sie – unter Wahrheitspflicht – aussagen.

Die Ischgl-Kommission wollte sich bei der rechtlichen Verantwortlichkeit in der Causa nie festlegen – nun sind die Gerichte am Zug. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil könnten allerdings Jahre vergehen. (Jakob Pflügl, Laurin Lorenz, 17.9.2021)