Vor allem die richtige Ansprache bei psychischen Problemen von Mitarbeitern und Kollegen sei laut der Psychotherapeutin entscheidend.
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STANDARD: Bei Kindern und Jugendlichen ist eine Zunahme psychischer Störungen durch die Pandemie belegt, bei Erwachsenen gibt es nur Hinweise darauf. Erschöpfung scheint weitverbreitet zu sein – aber das ist ja keine Störung, oder?

Wagner: Während früher psychische Störungen eher tabuisiert wurden, weil sie gesellschaftlich nicht akzeptiert waren, gibt es heute eine gegenläufige Tendenz: die Pathologisierung und Medikalisierung alltäglicher menschlicher Leidenszustände. Uns wird suggeriert, dass ein gesunder Mensch immer ausgeglichen, zufrieden und angstfrei sein muss. Das ist aber nicht die Realität menschlicher Existenz. Es gibt "normale" Traurigkeit, "normale" Selbstzweifel, "normale" Erschöpfung. In diesen Fällen ist auch nicht unbedingt eine Behandlung anzuraten – jedenfalls keine medikamentöse.

Elisabeth Wagner ist Psychiaterin und Psychotherapeutin.
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STANDARD: Die bessere Alternative?

Wagner: Es genügt, über seine Lebenssituation und eventuell nötige Veränderungen nachzudenken oder darüber mit zugewandten Menschen zu sprechen. Wenn die anstehenden Veränderungen sehr ambivalent oder mit großen Risiken behaftet sind, kann auch eine psychotherapeutische Begleitung hilfreich sein. Die Indikation für die Psychotherapie ist dann nicht eine krankheitswertige psychische Störung, sondern der Unterstützungsbedarf in einer belastenden Lebenssituation. Das hat eher einen präventiven Charakter und ist volkswirtschaftlich betrachtet sicher sinnvoll, zumal bei diesen Gelegenheiten vor allem kurze, fokussierte Psychotherapien zur Anwendung kommen.

STANDARD: Ist das Zeitalter der Innenschau angebrochen?

Wagner: Das ist ein interessanter Gedanke. Tatsächlich ist es ja so, dass psychische Phänomene, also unsere Gefühle und Gedanken nicht unabhängig von gesellschaftlichen Deutungsangeboten entstehen. Nicht nur wie wir über unsere Gefühle denken, wie wir sie bewerten, sondern auch was wir fühlen, ist kulturell präformiert. Diese soziale Formatierung trifft natürlich nicht auf alle Gefühle in gleichem Ausmaß zu – Angst bei Gefahr ist kein soziokulturelles Phänomen. Schuld- oder Schamgefühle, die sogenannten sozialen Emotionen, hingegen schon. Allerdings haben in liberalen Wohlstandsgesellschaften Schuld- und Schamgefühle an Bedeutung verloren. Moderne westliche Gesellschaften laden zu anderen Gefühlen ein – etwa zu dem der Kränkung. Brigitte Lassnig, eine Kollegin, die sich aus systemtheoretischer Sicht mit Emotionen beschäftigt, hat es so ausgedrückt: "Der Satz ,Ich fühle mich nicht wertgeschätzt‘ wäre im bäuerlichen Umfeld meiner Großmutter nicht vorgekommen."

Worauf verweist diese Überlegung? Natürlich nicht darauf, dass man sich damals immerwährender Wertschätzung sicher sein konnte, sondern darauf, dass Wertschätzung nicht erwartet wurde, dass darauf kein Anspruch erhoben wurde. Das heute vorherrschende Gefühl der Kränkung verweist daher vor allem darauf, dass Menschen gegenwärtig sehr anspruchsvoll bezüglich Wertschätzung geworden sind. Diese Erwartungshaltung und die daraus resultierende Empfindlichkeit und Kränkbarkeit halte ich für das spezifischere Phänomen unserer Zeit – mehr noch als die Tendenz zur Innenschau.

STANDARD: Was ist aktuell am häufigsten im Jobleben zu beobachten?

Wagner: Die im Arbeitskontext am häufigsten auftretenden psychischen Störungen sind sicher das Burnout-Syndrom und leichte depressive Störungen. Das Burnout ist weniger eine Bezeichnung für einen bestimmten Zustand, sondern für einen bestimmten Prozess: Hohe berufliche Anforderungen führen zu immer größeren Anstrengungen im Beruf. Andere Lebensbereiche, Hobbys und private Beziehungen werden zunehmend vernachlässigt, erste Anzeichen der Belastung und Erschöpfung, wie gehäufte Schmerzen, vegetative Beschwerden, Schlafstörungen werden ignoriert. Häufig wird die Funktionsfähigkeit durch Tabletten (Schmerzmittel oder Beruhigungsmittel) erhalten, oder die Fähigkeit abzuschalten wird nur mehr durch vermehrten Alkoholkonsum erreicht. In dieser Phase sind es eher Freunde und Familienmitglieder, die die Veränderung bemerken, da ja von den Betroffenen alles darangesetzt wird, die beruflichen Anforderungen zu erfüllen.

STANDARD: Was kann ich als Kollegin, als Vorgesetzte tun, was sollte ich unterlassen, wie spreche ich die Person am besten an, wenn ich etwas bemerke?

Wagner: Kollegen und Vorgesetzte haben oft erst recht spät die Möglichkeit, die psychischen Auswirkungen direkt zu beobachten. Allerdings haben sie von Anfang an die Möglichkeit, das Arbeitsverhalten zu beobachten – erste Reihe fußfrei sozusagen. Die wenigsten Menschen arbeiten heimlich bis zur Erschöpfung, und noch weniger können das endlos lange tun, ohne Schaden zu nehmen. Insofern braucht es hier weder besondere Expertise der Gesprächsführung noch diagnostischen Scharfblick, sondern nur einen verantwortungsvollen Führungsstil: Die Ressource Mensch darf nicht schonungslos ausgebeutet werden. So viel zum Thema Workload – allerdings erklärt dies nur einen Teil der Burnout-Fälle.

STANDARD: Und der andere Teil?

Wagner: Mindestens genauso häufig ist es nicht das Ausmaß der Arbeitsbelastung, sondern eine Art Demoralisierung durch fehlende Anerkennung, durch fehlende Fairness und durch fehlende Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Arbeit. Wenn Abteilungen ständig umstrukturiert werden, wenn die Mitarbeiter wie Spielfiguren verschoben werden, wenn dadurch die Ersetzbarkeit unübersehbar wird, soziale Verbindlichkeiten wie Loyalität und Teamgeist aber systematisch abgebaut werden, erhöht dies das Burnout-Risiko genauso, wie wenn teure Berater für die Erarbeitung von Mission-Statements bezahlt werden, die dann gut sichtbar ausgehängt werden, aber den alltäglichen Erfahrungen des Miteinanders radikal widersprechen. Führungskräfte müssen keine Psycho-Experten sein, aber sie sollten führen können: Verantwortung übernehmen, faire Entscheidungen treffen, erfüllbare Anforderungen stellen, adäquate Rückmeldung geben. Dazu kann auch folgende Rückmeldung gehören: "Ich bin mit Ihrer Leistung sehr zufrieden. Wir alle sehen, was Sie für die Firma tun. Aber ich mache mir Sorgen, dass Sie diese Belastung nicht endlos durchstehen. Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie Sie Ihr Engagement aufrechterhalten können, ohne damit langfristig Ihre Gesundheit zu gefährden. Das ist keine Bevormundung, das ist meine Aufgabe als Führungskraft."

STANDARD: Wie viel Klarheit in der Ansprache ist gut, wie viel Konfrontation?

Wagner: Menschen reagieren oft mit Widerstand darauf, dass andere ihren Seelenzustand interpretieren ("Sie haben ein Burnout") – das ist eine Art der Bemächtigung, für die es eine Kompetenzzuschreibung braucht. Als Psychiaterin oder -Psychotherapeutin werde ich oft gefragt: "Ist das noch normal, eine Schwankung, die von allein vorbeigeht, oder ist das schon krankheitswertig und brauche ich Behandlung" – aber dieser Frage geht die Entscheidung der Betroffenen voraus, mich zurate zu ziehen. Ich werde damit als Expertin angesprochen. In einem Gespräch unter Kollegen oder Freunden ist die Situation eine andere. Da löst die unaufgeforderte Äußerung einer psychischen Störung oder eines vermeintlichen Behandlungsbedarfes häufig Widerstand aus. Daher würde ich eher empfehlen, bestimmte Wahrnehmungen zu äußern: "Ich habe den Eindruck, dass Sie in letzter Zeit oft gereizt, unkonzentriert und hektisch sind. Ich weiß, dass Sie sehr viel arbeiten und ziemlich unter Druck stehen, aber ich mach mir Sorgen, dass das aus dem Ruder läuft. Wie sehen Sie das?" Wenn man eigene Wahrnehmungen zur Verfügung stellt ("Mir fällt auf, dass Sie ... Ich habe den Eindruck, dass Sie ...") und sich dann ehrlich für das Erleben und die Sichtweise des Gegenübers interessiert, ist die Wahrscheinlichkeit, gemeinsam zu einer adäquaten Einschätzung der Situation zu kommen, sicher größer, als wenn man der betroffenen Person eine psychiatrische Störung zuschreibt. Es ist nicht die Aufgabe von Kollegen und Vorgesetzten, Verdachtsdiagnosen auszusprechen. Wegschauen und Ignorieren ist langfristig nicht der richtige Weg, wenn entweder ein Vertrauensverhältnis oder ein Verantwortungsverhältnis besteht. (Karin Bauer, 17.9.2021)