Wenn die anderen herumlaufen, bleibt er sitzen, wenn die Kinder im Lager drauflos plappern, ist er still. Arman Muradi kommuniziert nur mit den Augen. Der Fünfjährige ist vor zwei, drei Jahren, als seine Eltern nach Europa aufbrachen, in seiner Entwicklung steckengeblieben. In einem psychologischen Gutachten von Ärzte ohne Grenzen steht, dass er zugesehen habe, wie sein Vater im früheren Lager Moria Opfer von Gewalt wurde. Danach habe Arman ganz aufgehört zu sprechen. Und seine Knie knicken ein, wenn ihn sein Vater auf die Beine stellt. Manchmal schlafwandelt er auch.

Armans Familie gehört zur Volksgruppe der Hazara, die ursprünglich im afghanischen Masar-e Scharif gelebt hatten, aber die vergangenen neun Jahre im Iran verbrachten. Die Muradis -Vater Murtaza, Mutter Najma, die achtjährige Tochter Baran und eben Arman – sind seit zwei Jahren auf der Insel Lesbos. Ihr Asylgesuch wurde bereits zweimal abgelehnt. Diesen Montag hat der Vater wieder ein Interview mit den Behörden, aber es sieht schlecht aus. "Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt", sagt Murtaza Muradi.

Die Muradis sind seit zwei Jahren auf Lesbos.
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Abkommen mit Türkei funktioniert nicht

Baran hat mittlerweile bei der Organisation Eurorelief Englisch gelernt. Die Muradis sind ein gutes Beispiel für jene etwa 3000 Menschen, die noch im Lager Kara Tepe sind. Die allermeisten von ihnen haben keine Chance auf Asyl, viele sollten längst in die Türkei zurückgebracht werden. Aber das EU-Türkei-Abkommen funktioniert nicht. Und so bleiben diese Menschen in Perspektivenlosigkeit gefangen. Arman reagiert darauf wie eine Pflanze, die kein Wasser und keine Sonne bekommt: Er entfaltet sich nicht.

Weil seit dem Beginn der Pandemie fast niemand mehr auf die Inseln kommt und die griechischen Behörden zigtausende Flüchtlinge anerkannten und auf das Festland brachten, leeren sich die Lager zunehmend. Auf Lesbos gibt es noch einige anerkannte Flüchtlinge, die auf ihre Papiere warten und in den nächsten Wochen abreisen. Übrig bleiben dann nur noch jene Leute, die keinen internationalen Schutz bekommen.

Infrastruktur verbessert

Theodoros Alexellis vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR auf Lesbos verweist darauf, dass heuer sechsmal weniger Flüchtlinge aus der Türkei auf die Insel kamen – im Vergleich zum Vorjahr. Von einer Flüchtlingswelle wegen der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist weder in der Türkei noch in Griechenland etwas zu bemerken. Der Anteil der Afghanen an allen Flüchtlingen auf der Insel ist sogar etwas gesunken.

Die meisten Migranten in Kara Tepe wohnen mittlerweile in Containern.
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In Kara Tepe müssen nur noch wenige in Zelten leben, die meisten wohnen in Containern oder Häuschen. "Die Zelte waren nur eine Notlösung nach dem Brand", meint Alexellis. Das provisorische Lager Kara Tepe wurde in den vergangenen Monaten Schritt für Schritt verbessert. In dem Bereich in Strandnähe, wo es im vergangenen Winter Überschwemmungen gab, wurde Erde aufgeschüttet. Wenn im Oktober die Wasser- und vor allem die Abwasserleitung an die Stadtgemeinde angebunden sein werden, dann müssen die Fäkalien nicht mehr ins Meer geleitet werden.

Dennoch stehen immer noch einige Zelte.
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Neues Aufnahmezentrum

Die lokalen Behörden bestehen trotz der Verbesserungen darauf, dass das Lager geschlossen wird, wenn im nächsten Jahr das Aufnahmezentrum in Vastria fertig sein soll. "Das Zentrum in Vastria darf nur geöffnet werden, wenn Kara Tepe vorher geschlossen wird. Wenn das nicht passiert, gibt es sofort einen Aufstand auf der Insel", stellt Tasos Balis von der Gemeindeverwaltung der Hauptstadt Mytilini klar. Vastria befindet sich etwa 25 Kilometer entfernt, in der Gegend gibt es keine Siedlungen. Deshalb soll es im Zentrum auch einen Supermarkt geben. Die EU zahlt für die neuen Flüchtlingszentren 276 Millionen Euro – jenes auf Samos wird diesen Samstag eröffnet. Elendslager wie jenes in Moria sollen alle der Vergangenheit angehören.

"Moria ist in die Annalen eingegangen, als "Schande Europas", als ein Ort der Gewalt und des Leidens, der Name dieses pittoresken Dorfes wurde in Mitleidenschaft gezogen", meint Alexellis. "Vielleicht sollte ihm ja nun den Namen "das Dorf, das früher Moria hieß" geben, um das Image zu verbessern, fügt er scherzhaft hinzu. Alexellis glaubt, dass viele aus Sensationsgier auch das neue provisorische Lager Kara Tepe nach dem Brand einfach Moria nannten. Der Name eignete sich jedenfalls gut, um Aufregung zu erzeugen, er war zu einer Metapher geworden, vielleicht auch weil er so mythisch klingt.

Biblischer Berg

Im Buch Genesis ist Moria der Name eines Berges, auf dem Abraham vorhatte, seinen Sohn Isaak zu opfern, was er dann bekanntlich doch nicht tat. Muslime glauben, dass Moria, das im Koran auf Arabisch "Marwa" genannt wird, in der Nähe der Kaaba in Mekka in Saudi-Arabien, liegt. Über eine eindeutige Verortung des biblischen Moria wird jedenfalls gestritten. Fraglich ist, ob in der Genesis mit "Moria" überhaupt ein reales Land gemeint war. Es könnte sich auch um einen fiktionalen Ort handeln, an dem sich beinahe etwas Furchtbares zugetragen hat. Der Berg Moria wird im Psalm 76 als "der Furchtbare" betitelt. In manchen Interpretationen wird er als ein Ort der Lehre, der Angst und des Weihrauchopfers definiert, von anderen wiederum als "Land der Visionen" gedeutet.

Auch mit dem Lager Moria kann jeder irgendetwas verbinden. Es eignet sich für Projektionen: Man kann sich solidarisieren, empören oder sich abwenden. Interessanterweise wurde das Lager Moria erst dann so richtig zum Inbegriff für jegliches Flüchtlingselend, als es durch das Feuer vernichtet wurde. Das Feuer fügte noch eine Katastrophendimension hinzu, etwas Infernalisches, etwas Ewiges. Deshalb verschwand auch das Lager niemals wirklich in den Köpfen vieler Menschen.

Nachleben

Selbst ein Jahr später, nachdem die Flammen alle Hütten verschlungen hatten, die Container versengt, die Olivenhaine verkohlt und die Toiletten unbrauchbar gemacht hatten, berichtete man noch immer von den entsetzlichen Zuständen in Moria, gebrauchte den Hashtag Moria, rief dazu auf, Kinder aus Moria zu evakuieren, oder wies darauf hin, dass es auch in Moria Covid-19 gäbe. Dabei hieß das nicht mehr existierende Lager nicht einmal Moria.

Das Migrationszentrum Paradellis wurde am 2. Dezember 2015 im ehemaligen Armee-Areal namens Paradellis geschaffen. Baracken, Wasser und Strom waren vorhanden und wurden am Höhepunkt der Flüchtlingskrise dringend gebraucht. Auf Lesbos gibt es viele solche Militärstützpunkte, weil die Insel so nahe an der türkischen Küste liegt. Vor einem Kloster im Norden ist sogar ein Abfangjäger zu bewundern, der auf einem Podest steht. Viele Lesvioten sind Berufssoldaten.

Wegen der Nähe zur Türkei gibt es auf Lesbos zahlreiche militärische Einrichtungen.
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Ärger über Einbrüche

Der schnurrbärtige Stratis und der braungebrannte Anxellos etwa, zwei gemütliche Männer, die ihr Dorf lieben. Allein in Moria sind 60 Männer so wie sie beim Militär. "Das Lager war früher ein Armeestützpunkt, wurde dann den Flüchtlingen gegeben. Wir hatten nie Probleme mit denen, aber es ist schon eine Befreiung, dass es das Camp nicht mehr gibt. Diese Menschen haben dort sehr gelitten, und wenn sie bei uns vorbeigekommen sind, hat das auch bei uns die Stimmung gedrückt", meint Anxellos.

Viele Morianer bedauern, dass die Zustände im Lager so schlecht waren. Manche regen sich noch immer über die Einbrüche in ihrem Dorf auf. Aber alle sind froh, dass es vorbei ist. Auch die Wirtin Taisia, die die Männer in Schach hält, die schwarzen Haare zusammengebunden und an den Spitzen grün eingefärbt, hatte "nie Probleme mit den Flüchtlingen".

Die Einwohner von Moria möchten nicht, dass ihr Dorf mit dem ehemaligen Lager gleichgesetzt wird.
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Größtes Problem Medien

Bloß, wenn sie im Dorf waren und am Handy ihren Freunden in Kamerun, Syrien oder in Deutschland erzählten, "wie schrecklich" Moria sei, dann hat Taisia, die Leute gebeten, doch bitte zwischen dem Dorf und dem Lager zu unterscheiden. "Denn das hat mir wehgetan. Das ist doch unser schönes Dorf Moria", meint sie. Das größte Problem seien aber die Medien. "Sie sollten aufhören, im Fernsehen das ehemalige Lager und das Dorf in Zusammenhang zu bringen", regt sie an.

Die Hügel, auf denen das Dorf Moria liegt, in der Peripherie der Stadt Mytilini, haben tatsächlich nichts Erschreckendes. Die Olivenbäume sind aufgrund ihres Alters großstämmig und zerfurcht. Dunkelgelbe Melonen und eingelegte Paprika werden in dem kleinen Kaufhaus feilgeboten. Katzen liegen auf Autodächern, und an der Hauptstraße sitzen an kleinen Tischen Männer allen Alters, um die Lage zu befinden und zu erörtern. Ihre türkischen Kaffees, die man hier griechisch nennt, sind längst erkaltet.

Solidarische Lesvioten

Zu Beginn, vor fünf Jahren, hatten die Lesvioten die Flüchtlinge umarmt, als sie an den Stränden ankamen. Denn viele Familien hier haben selbst Fluchterfahrung, weil ihre Vorfahren 1923 aus der Türkei vertrieben wurden. Solidarität wurde hier immer großgeschrieben, die Insel wählte mehrheitlich immer links. Aber nach fünf Jahren waren die Leute erschöpft und zerstritten. "Wir haben das Vertrauen in die EU und unsere Regierung verloren, weil sich einfach nichts änderte", erzählt Herr Balis, der in dem alten Verwaltungsgebäude sitzt, umgeben von Ölgemälden. Dazu kam noch ein ganz anderer Ärger.

"Viele Menschen waren gekränkt und zornig, als ausländische Helfer hierherkamen und uns vorwarfen, wir seien fremdenfeindlich oder rechtsgerichtet. Das waren Besucher aus Staaten, wie Dänemark oder Frankreich, die selbst überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen." Der herablassende und besserwisserische Ton gegenüber den Griechen nervte diese.

"No Border"-Aktivisten

Auf der Insel hatten sich 120 Hilfsorganisationen eingefunden, bei manchen wusste niemand, was sie eigentlich taten oder wer sie waren. Sie kochten in Abbruchhäusern Essen für Flüchtlinge oder sprayten "No Border" auf die Gebäude. Manchmal konnte man gar nicht mehr unterscheiden, wer als Tourist, politischer Aktivist oder Mitglied einer Hilfsorganisation auf der Insel weilte. Ab dem Frühjahr 2016 wurden die Lager zudem immer voller, weil die mazedonische Grenze geschlossen blieb und nur noch wenige weiter durch den Balkan ziehen konnten. Rund um Mytilini mit 30.000 Einwohnern befanden sich Ende 2019 mehr als 20.000 Flüchtlinge.

Die Einwohner wollten schließlich alle loswerden: die Regierung, die Flüchtlinge und die Hilfsorganisationen. Es kam zu Übergriffen, nicht nur gegen Migranten, sondern auch gegen Helfer. Vor etwa zwei Jahren beschloss die Regierung dann eine neue Strategie: Die Verfahren sollten schneller durchgeführt, die elendigen Lager geschlossen, die Leute aufs Festland gebracht und die Hilfsorganisationen kontrolliert werden.

Tatsächlich gibt es heute kaum mehr Gewalt gegen Flüchtlinge. Die Anzahl der Flüchtlinge ist auf einem Tiefststand. Die lokale Bevölkerung sieht es auch als Entlastung an, dass kaum mehr Leute mit den Gummibooten anstranden. Im Camp Kara Tepe sind noch 15 Hilfsorganisation tätig. Manche sind für den Müll zuständig, manche für die Kinderbetreuung, andere geben rechtliche Tipps. Ein Regierungskoordinator verteilt die Aufgaben.

Das Online-Café ist verwaist.
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"Wir haben die anderen Hilfsorganisationen weggeschickt", erzählt die blondgefärbte Frau, die ihren Namen nicht nennen will und die gerade die Treppe ihres Hauses in Moria wäscht. Das Online-Café, ein Hilfsprojekt, auf der anderen Straßenseite ist heute tatsächlich verwaist. Der Frau, die eine Autovermietung betreibt, ist es aber egal, ob Moria nun auf der ganzen Welt ein schlechtes Image hat oder nicht. "Die Touristen kommen ja nicht wegen Moria auf die Insel. Hier bei uns gibt es ja auch nichts zu sehen, außer das alte römische Aquädukt."

Das römische Aquädukt, ein Verweis auf eine lange Geschichte.
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Das steinerne Konstrukt über der Schafweide ist sehr elegant und offensichtlich robust. Das Kulturministerium hat nun Rettungsmaßnahmen für das Ingenieurbaukunstwerk aus dem 2. Jahrhundert beschlossen. Man muss aber den kommenden Generationen überlassen, ob das antike Wasserleitungssystem letztendlich stärker in der Geschichte verankert bleiben wird als ein Lager, das es nicht mehr gibt, das aber zur Metapher wurde. (Adelheid Wölfl, 17.9.2021)

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