Zusammen allein sein: "Stadt der Blinden" in der Josefstadt.

Foto: Moritz Schell

Im Wettbewerb, die Covid-Pandemie künstlerisch aufzugreifen, tut sich das traditionelle Theater schwer. Stücke müssen erst geschrieben werden, bevor sie nach wochenlanger Probenarbeit das Theaterlicht erblicken. Elfriede Jelinek war mit ihrem Covid-Stück im Aktualitätswettstreit wieder einmal die Erste, nach der Uraufführung in Hamburg hatte Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! vor zwei Wochen im Akademietheater Premiere. Regie: der wilde Frank Castorf.

In der Josefstadt greift man dagegen auf einen 1995 erschienenen Roman des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago zurück, um Anschluss an die Gegenwart zu demonstrieren. In Stadt der Blinden erblindet nach und nach eine ganze Stadt. Warum, das ist genauso unklar wie der Umstand, dass ausgerechnet die Frau des Augenarztes (Sandra Cervik) von der Pandemie verschont bleibt.

Theaterpranke

Die Theaterfassung stammt von Thomas Jonigk. Regie: die handwerklich sehr versierte Stefanie Mohr. Angesichts eines 400-Seiten-Romans, der in eine zweistündige Bühnenfassung gepresst werden will, ist eine gute Theaterpranke eine gute Voraussetzung.

Mit Nebensächlichkeiten hält man sich in der Josefstadt denn nicht lange auf. "Ich bin blind", gellt es durch den von Miriam Busch betont nüchtern gehaltenen Bühnenraum. Die zehn Schauspieler tragen Alltagskleidung (Nini von Selzam), gemeinsam oder in kleineren Konstellationen geben sie einen Chor, der die Handlung mit Tempo vorantreibt.

Statt lange zu überlegen, was zu tun sei, verkündet ein Sebastian-Kurz-Lookalike (Julian Valerio Rehrl), dass die Erblindeten interniert werden. Wie im Foucault’schen Panoptikum sehen sich die Gefangenen einem rigiden Überwachungssystem gegenüber. Jeder Fehltritt wird geahndet, die Essensausgabe zum Druckmittel, um Aufsässige in Schach zu halten. Diese haben es aber bald weniger auf die Wachen als auf die Mitgefangenen abgesehen, vor allem auf die weiblichen, die sie sexuell malträtieren. Der Ausnahmezustand, den Saramago an die Wand malt, hat mit dem, womit wir uns in den vergangenen eineinhalb Jahren konfrontiert sahen, nicht viel zu tun.

In der Josefstadt wird der Mensch dem Menschen zum Wolf, und dementsprechend sieht es auch bald in Busches White Cube aus: die Wände beschmiert, die Menschen verdreckt und verlottert. Mit der Schere, die an der Bühnenrückwand hängt, sticht die Frau des Augenarztes einen der Vergewaltiger nieder. Sie bewahrt sich dank ihres Augenlichts einen letzten Rest von Handlungsfähigkeit.

Spur von Menschlichkeit

Man könnte auch Menschlichkeit dazu sagen. Denn darum geht es in dieser Dystopie: welche Kräfte des Zusammenhalts und der Fürsorge in einer Ausnahmesituation mobilisiert werden. Nachdem die gesamte Stadt erblindet ist, kämpft sich ein Grüppchen unter der Führung der Sehenden in die alte Umgebung zurück. Toilettenwasser dient ihnen als Dusche, eine Seife findet sich auch noch irgendwo, bevor man wie in einem Märchen plötzlich das Augenlicht wieder erlangt.

Der Theaterritt durch die Hölle findet ein gutes Ende. Man wünschte sich, Regisseurin Stefanie Mohr wäre mitunter etwas stärker in die Vollen gegangen. Ein Achtungserfolg ist ihr aber allemal gelungen. (Stephan Hilpold, 18.9.2021)