Gergely Karácsony will bei der nächsten Wahl gegen Viktor Orbán antreten. "Drei Jahrzehnte nach dem Sturz des Kommunismus sind wir erneut gezwungen, uns in Europa demokratiefeindlichen politischen Kräften entgegenzustellen", sagt der Budapester Bürgermeister im Gastkommentar.

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Gergely Karácsony
Foto: AP / Laszlo Balogh

Mein politisches Erwachen fiel mit dem Systemwandel zusammen, der auf den Zusammenbruch des Kommunismus in Ungarn 1989 folgte. Ich war fasziniert von der raschen Demokratisierung meines Landes – und überglücklich darüber. Als Teenager überredete ich meine Familie, mich an die österreichische Grenze zu fahren, damit ich bei diesem historischen Ereignis dabei sein konnte: der Demontage des Eisernen Vorhangs, die es Flüchtlingen aus der DDR erlaubte, in Richtung Westen auszureisen. Ich las viele neue Publikationen, nahm an Kundgebungen neu gegründeter demokratischer Parteien teil und wurde aufgesogen von der Atmosphäre grenzenloser Hoffnung für unsere Zukunft.

Heute scheinen diese Empfindungen wie kindische Naivität, oder zumindest wie das Produkt eines idyllischen Geisteszustands. Sowohl die Demokratie als auch die Zukunft der menschlichen Zivilisation sind angesichts vielfältiger und einander überlappender Krisen inzwischen stark gefährdet.

Vereinnahmung des Staates

Drei Jahrzehnte nach dem Sturz des Kommunismus sind wir erneut gezwungen, uns in Europa demokratiefeindlichen politischen Kräften entgegenzustellen. Ihr Handeln ähnelt häufig dem der Kommunisten alten Stils, nur dass sie jetzt mit einem autoritären, nativistisch- populistischen Programm antreten. Wie die Kommunisten von einst murren sie noch immer über "ausländische Agenten" und "Staatsfeinde" – womit sie alle meinen, die ihre Werte oder politischen Präferenzen ablehnen – und verunglimpfen den Westen, wobei sie häufig dieselben Beschimpfungen verwenden, die wir während des Kommunismus zu hören bekamen. Ihre politischen Praktiken haben demokratische Normen und Institutionen untergraben, dabei den öffentlichen Raum zerstört und die Bürger durch Lügen und Manipulation einer Gehirnwäsche unterzogen.

Der nativistische Populismus ist tendenziell auf ein einziges Ziel ausgerichtet: die Monopolisierung staatlicher Macht und aller staatlichen Aktiva. In meinem Land hat das Regime von Ministerpräsident Viktor Orbán durch geschickte Manipulation der demokratischen Institutionen und die Korrumpierung der Wirtschaft fast den gesamten Staat vereinnahmt. Die Parlamentswahl im nächsten Jahr, bei der ich gegen Orbán antrete, wird zeigen, ob sich die Vereinnahmung des ungarischen Staates noch umkehren lässt.

Soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit

Ich glaube, dass das möglich ist. Doch die Populisten komplett für die Aushöhlung unserer Demokratie verantwortlich zu machen heißt, Ursache und Wirkung durcheinanderzubringen. Die Wurzeln unserer demokratischen Defizite reichen tiefer als der glühende Nationalismus und soziale Konservatismus der herrschenden Partei und ihr Bestreben, Verfassungsrechte zu beschneiden. Wie der Aufstieg illiberaler Parteien in älteren westlichen Demokratien rühren die demokratischen Rückschritte in Mittel- und Osteuropa aus strukturellen Problemen wie der grassierenden sozialen Ungerechtigkeit und Ungleichheit her. Diese Probleme sind großteils durch das Missmanagement und den Missbrauch des Privatisierungsprozesses und des Übergangs zur Marktwirtschaft nach 1989 bedingt.

Ältere, etablierte Demokratien erleben derzeit ähnlich verzerrte soziale Folgen. Mit Entwicklung eines sozial ausgerichteten Wohlfahrtsstaates in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Krieg (einem Zeitraum, den der französische Bevölkerungswissenschafter Jean Fourastié als "les trente glorieuses" – die glorreichen drei Jahrzehnte – bezeichnet hat) ermöglichte das Wirtschaftswachstum in den westlichen Demokratien eine massive Ausweitung der Mittelschicht. Doch folgte hierauf eine Welle der neoliberalen Deregulierung und marktfundamentalistischer Wirtschafts- und Sozialpolitiken, deren Ergebnisse heute offenkundig sind.

"Endloses unreguliertes Wirtschaftswachstum – die Kerndynamik des Kapitalismus – ist mit dem Leben auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen schlicht unvereinbar."

Mehr als alles andere war es diese radikale Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom öffentlichen Wohl, die den illiberalen populistischen Geist aus der Flasche ließ und in vielen Ländern den demokratischen Konsens zerstörte.

Schlimmer noch: Auf unserer Generation lastet nicht "nur" der Fluch massiver politischer und sozialer Umwälzungen; wir haben es zudem mit einer Klimakrise zu tun, die die Grundvoraussetzungen für die Organisation moderner Gesellschaften in Frage stellen. Progressive wie ich betrachten auch dies als direkte Folge der Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems. Endloses unreguliertes Wirtschaftswachstum – die Kerndynamik des Kapitalismus – ist mit dem Leben auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen schlicht unvereinbar. Derzeit verursacht unser kapitalistisches System einen immer stärkeren Verbrauch dieser Ressourcen und produziert jedes Jahr mehr Emissionen.

"Die Kommunen sind gut aufgestellt, um das Leben der Bürger zu verbessern."

Wir dürfen uns angesichts dieser Herausforderungen nicht dem Fatalismus oder der Apathie hingeben. Progressive müssen schließlich a priori an das Versprechen des menschlichen Fortschritts glauben. Unsere Institutionen und Wirtschaftspolitik lassen sich an sich wandelnde Umstände anpassen. Ungerechtigkeiten, die die Menschen der Demokratie entfremden, lassen sich beheben. Kanäle für einen demokratischen Dialog sind wiederherstellbar.

Als Bürgermeister der wichtigen europäischen Metropole Budapest kann ich bezeugen, dass Kommunalpolitik und -verwaltung wichtig sind. Ob durch demokratisches Engagement, Emissionssenkungen oder soziale Investitionen (Bereiche, in denen wir trotz heftigen Widerstands des Orbán-Regimes erhebliche Fortschritte gemacht haben): Die Kommunen sind gut aufgestellt, um das Leben der Bürger zu verbessern. Und indem wir das tun, können wir zugleich Synergien erzeugen und neue Modelle entwickeln, die zu einem umfassenderen progressiven Wandel beitragen. Daher ist Budapest bestrebt, über das, was wir selbst tun, hinaus zu allen internationalen Bemühungen beizutragen, die darauf zielen, die Demokratie und einen lebenswerten Planeten zu erhalten.

Pakt freier Städte

Die Teilnehmer des Budapest Forum diskutierten Strategien zur Bewältigung der drängendsten politischen Herausforderungen unserer Zeit. Budapest hat im Rahmen des Forums zudem ein Gipfeltreffen des Paktes freier Städte ausgerichtet, um ein breiter aufgestelltes globales Netz progressiver Bürgermeister und führender Kommunalpolitiker zu schaffen, die sich zur Verteidigung der Demokratie und des Pluralismus bekennen. Mehr als 20 Bürgermeister von Großstädten – von Los Angeles über Paris und Barcelona bis hin nach Taipei – traten einem Bündnis bei, das im Dezember 2019 von den Bürgermeistern der Hauptstädte der vier Visegrád-Staaten (der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakei) gegründet wurde.

Martin Luther King, Jr. hat einmal gesagt, dass wer Frieden wolle lernen müsse, sich so wirksam zu organisieren wie die, die Krieg wollen. Dasselbe gilt für die Demokratie. Wir müssen den intellektuellen Kampf gegen den nativistischen Populismus und den zivilisatorischen Kampf gegen den Klimawandel gewinnen – und wir müssen beides zur selben Zeit tun. (Gergely Karácsony, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 18.9.2021)