Gesellschaftliche Kämpfe um leistbaren und lebenswerten Wohnraum sind ein universelles urbanes Phänomen. Für postsozialistische Städte stellt sich die Frage aber mit besonderer Brisanz: In den letzten drei Jahrzehnten seit der Wende wurde in vielen Ländern Ost(mittel)europas der ehemals staatlich verwaltete Wohnsektor radikal und rapide zu einem freien Wohnungsmarkt umfunktioniert. Dies geht nach der Politsoziologin Kerstin Jacobsson mit dem Verfall des Wohnungsbestands, einer Aufteilung in arme und wohlhabende Gegenden sowie zu wenig Neubau von Sozialwohnungen einher. Dazu kommen steigende Mieten und Strompreise, Gentrifizierung sowie die Privatisierung des öffentlichen Raums. Die Regierungen setzten diesen Problemen keine adäquaten Maßnahmen entgegen.

Eine Besonderheit des osteuropäischen urbanen Raumes war das plötzliche Aufkommen der sichtbaren und massenhaften Obdachlosigkeit nach 1989. Unmittelbar nach der Wende war eine Hauptursache dafür – zumindest in Ungarn – ausgerechnet die Entkriminalisierung der Obdachlosigkeit: zehntausende Obdachlose wurden aus staatlichen Institutionen und Gefängnissen entlassen, hatten aber weiterhin keinen Wohnsitz. Dazu kamen immer mehr Personen, die aus staatlichen Wohneinrichtungen ausziehen mussten.

In den letzten Jahren hat Ungarn eine erneute repressive Wende seiner Obdachlosenpolitik vorgenommen. Seit 2018 ist Obdachlosigkeit gesetzlich verboten. Dabei ist es auch nicht unerheblich, den Unterschied zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit zu beachten: Obdachlose leben und nächtigen auf der Straße (beziehungsweise in Notunterkünften), Wohnungslose leben in längerfristigen Unterkünften. Die staatliche Repression richtet sich vor allem gegen obdachlose Personen, da diese besonders sichtbar sind.

Spezifika der Obdachlosigkeit in Ungarn

Es ist schwierig, genaue Zahlen über Obdachlose in Ungarn zu erheben, die Schätzungen schwanken zwischen 12.000 bis 30.000 Personen. Die Zahlen setzen sich vor allem aus den Angaben verschiedener Versorgungsstellen zusammen. Dadurch kommt es einerseits zu Lücken, da nicht alle Personen Hilfsangebote in Anspruch nehmen und andererseits zu Mehrfachzählungen. Die Betroffenen sind größtenteils männlich, wobei der Anteil der Frauen sich mit 30 Prozent seit der Wende verdreifacht hat.

Eine besonders wichtige Quelle ist das Langzeit̶-Forschungsprojekt Február Harmadika (Dritter Februar). Seit 1990 befragen Fachpersonen aus der Obdachlosenhilfe am kältesten Tag des Jahres so viele ihrer Klienten wie möglich zur ihren Lebensumständen. Der Fokus liegt somit dezidiert nicht auf einer Zählung, sondern der Verbesserung der Versorgung. 2020 nahmen mehr als 7.500 Wohn- und Obdachlose an der Befragung teil. Bei der Selbstangabe der Gründe für die Wohnsituation kristallisieren sich zwei Hauptfaktoren heraus: Fast 50 Prozent sehen familiäre Konflikte als Hauptursache, gefolgt von wirtschaftlichen Gründen mit knapp 30 Prozent. Auch wenn das Verhältnis ähnlich geblieben ist, ist es doch auffällig, dass die wirtschaftlichen Gründe nicht nur seit 1999 zugenommen, sondern auch ihren bisherigen Höchststand erreicht haben.

Ökonomische Aspekte spielen auch laut der Forscherin und Aktivistin Éva Tessza Udvarhelyi eine große Rolle in der Wohnkrise Ungarns. In ihrem 2014 erschienen Buch stellt sie fest, dass eine starke räumliche Trennung zwischen arm und reich besteht: 300.000 Personen wohnen an Orten konzentrierter Armut, im Norden Ungarns gibt es Dörfer mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 90 Prozent. Die Gruppe der Roma ist dabei besonders betroffen: Jeder zweite lebt in ethnisch segregierten Gegenden mit schwacher Infrastruktur. Auch unter den Obdachlosen sind sie überrepräsentiert. 2013 bezeichneten sich 16 Prozent der Obdachlosen als Roma, die in demselben Jahr aber lediglich knapp neun Prozent der Bevölkerung ausmachten.

Wie gefährlich so eine schlechte infrastrukturelle Versorgung werden kann, zeigt die Tatsache, dass über zehn Prozent der Bevölkerung keine adäquate Beheizung im Winter hat. Der Großteil der Erfrierungstode findet nicht auf der Straße, sondern Zuhause statt. Der naheliegende Vorschlag, dass Personen in prekären Wohnsituationen auf soziale Wohnangebote ausweichen sollen, scheitert an der Realität: 2014 waren nur drei Prozent der ungarischen Wohnungen in staatlicher Hand, darunter nicht nur Sozialwohnungen. Der Bedarf nach sozialem Wohnbau übersteigt das Angebot also bei weitem. Darüber hinaus haben Mieter von Eigentumswohnungen oft keinen ordentlichen Mietvertrag und sind den Eigentümer somit ausgeliefert.

Ungarn geht seit Jahren hart gegen Obdachlose vor.
Foto: imago images/Winfried Rothermel

Kriminalisierung der Obdachlosigkeit

Ein früher gravierenderer Eingriff in die bestehende Rechtsordnung nach der Machtübernahme durch die Fidesz 2010 war die Einführung des Drei-Strike-Prinzips im Strafgesetzbuch. Wie beispielsweise in Kalifornien ist es auch in Ungarn der Fall, dass rückfällige Straftäter für das selbe Vergehen zunehmend längere beziehungsweise lebenslängliche Strafen verbüßen. 2012 wurde die Drei-Strike-Regelung auch auf alle Ordnungswidrigkeiten – also zum Beispiel Zigarettenstummel auf den Boden werfen – ausgeweitet. Bei einem dritten „Rückfall“ innerhalb eines halben Jahres drohte nun statt einer Geldstrafe Haft. Ende 2011 wurde dann erstmals ein Gesetz beschlossen, dass Obdachlosigkeit zur Ordnungswidrigkeit erklärte, wobei dieses von dem Verfassungsgericht sofort als verfassungsfeindlich eingestuft und ausgesetzt wurde. Orbán, der sich bis dato in Zurückhaltung bei der Thematik geübt hatte, stellte daraufhin in Aussicht, das Gesetz in der Verfassung zu verankern, um die Kontrolle durch das Gericht zu umgehen.

Als 2013/2014 tatsächlich die vierte Verfassungsänderung folgte, sollte sie unter anderem den Kommunen ermöglichen, Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum zu verbieten. Sowohl dieser Versuch als auch ein weiterer 2016 scheiterten zunächst knapp vor Verfassungsgericht und Oberstem Gerichtshof. Im Herbst 2018 erreichte die Regierung schließlich doch das endgültige Verbot der Obdachlosigkeit, in dem sie Artikel XXII der Verfassung um ein Verbot des „Aufenthalt an öffentlichen Orten zu Zwecken der Lebensführung“ ergänzte. Anschließend verschärfte sie das Verwaltungsrecht: Nun konnten Obdachlose nicht erst, gemäß den drei Strikes, beim dritten Mal, sondern sobald sie kommunale Arbeit verweigerten, inhaftiert werden. Zu dem ist die Polizei unter anderem auch dazu befugt, ihren persönlichen Besitz zu beschlagnahmen und zu vernichten.

Die Stadt gehört allen

Das Gesetz wurde von Seiten der Interessensorganisationen nicht widerspruchslos hingenommen, dutzende Demonstranten protestierten bereits im Vorfeld, indem sie auf Pappkartons sitzend öffentliche Plätze vereinnahmten. Diese Art des zivilen Protests hat in Ungarn Tradition: 1989 bis 1990 kam es anlässlich der Planung nächtlicher Schließungen der Bahnhöfe zu mehreren großen Demonstrationen in denen sich Bündnisse zwischen Obdachlosen, Jugendlichen und NGOs bildeten.

Zentral für den aktuellen Widerstand ist die 2009 in Budapest durch Udvarhelyi gegründete NGO Die Stadt gehört allen (ÁVM). Die seit 2015 auch in Pécs, der fünftgrößten Stadt Ungarns, vertretene Organisation zielt, wie die Proteste der Wende, auf klassenübergreifende Solidarität. Ihre Mitglieder sind ehemals oder aktuell obdachlos, von Wohnungslosigkeit bedroht oder Sympathisanten. Neben Bildungsarbeit und politischer Partizipation bietet ÁVM auch konkrete Services wie die Rechtsberatung Utcajogász an, die sich unter anderem an dem Arbeitskreis Ordnungswidrigkeit beteiligt und Betroffene bei Verfahren unterstützt.

Ausblick

Die Corona-Pandemie stellt Wohnungs- und Obdachlose vor neue Herausforderungen: So soll sich die Zahl der Obdachlosen in Pécs verdreifacht haben. Über die Hälfte der unter 29-jährigen Obdachlosen hat nach eigener Aussage ihren Arbeitsplatz während der Pandemie verloren. Kämpfe um Wohnraum müssen mit dem Kampf für die Rechte von Obdachlosen verbunden sein, nicht zuletzt, weil ein adäquates, sicheres Wohnumfeld den sichersten Schutz vor Obdachlosigkeit bietet – beziehungsweise auch den Ausstieg aus dieser.

Dieser sogenannte Housing-First-Ansatz, bei dem obdachlose Personen von Anfang an ein eigenständiges Mietverhältnis eingehen und dabei adäquat und langfristig unterstützt werden können, wird zum Beispiel erfolgreich vom neunerhaus in Wien praktiziert. Darüber hinaus scheinen sich in Ost(mittel)europa in diesem Feld auch Menschen aus sozial geschwächten Schichten zu organisieren, die an anderen politischen Partizipationsangeboten wenig teilhaben, wie sich unter anderem an der Mieterbewegung in Polen zeigt. Diese klassenübergreifenden Bündnisse sind wichtig, um für eine lebenswerte Stadt einzustehen, die gegen Obdachlosigkeit und nicht gegen die von ihr Betroffenen vorgeht. (Ines Konnerth, 22.9.2021)

Ines Konnerth studiert den Masterstudiengang „Interdisziplinäre Osteuropastudien“ sowie Transkulturelle Kommunikation (Deutsch-Spanisch-Ungarisch) an der Universität Wien

Literaturhinweise

  • Jacobsson, K. (2015). Introduction: The Development of Urban Movements in Central and Eastern Euorpa. In K. Jacobsson (Hrsg.), Urban Grassroots Movements in Central and Eastern Europe (S. 1-32). Ashgate.
  • Győri, P. (2020). Idősorok a hazai hajléktalanságról. In T. Kolosi, I. Szelényi, & I. Tóth, Társadalmi Riport 2020 (S. 332-357). TÁRKI.
  • Udvarhelyi, É. (2014). Az igazság az utcán hever. Válaszok a Magyarországi lakhatási válságra. Napvilág kiadó
  • Ungarn: Wenn Armut zur Straftat wird (DW)
  • The criminalisation of homelessness in Hungary

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