Inhalte des ballesterer #164 (Oktober 2021) – Seit 17. September im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

Schwerpunkt: FC WACKER INNSBRUCK

STABILE STAGNATION
Wacker Innsbruck befindet sich im ständigen Überlebenskampf

"WIR WOLLEN KRITISCH SEIN"
Die "Verrückte Köpfen" sind 30

KETTE UND SCHUSS
Die Wacker-Chronik von 2013

Außerdem im neuen ballesterer

TORE, JUBEL UND REKORDE
Nachruf auf Gerd Müller

AUF DER FLUCHT
Afghanistans Fußballerinnen sind in Gefahr

RÜCKKEHR AUF RATEN
So voll sind Europas Stadien

EIN PLÄDOYER
Ein Anstoß zu Fußball und sexueller Gewalt

GELDKOFFER AUS LUXEMBURG
Der große Deal der spanischen Liga

KOLONIALMÄRKTE
Die Asientournee des LASK von 1953

SPANISCHE SPIELWIESE
Die Casellis beim Burgos CF

HOCHSEEHOPPING
Gastspiel auf Helgoland

"ICH HABE GEWUSST, WAS DIE STÜRMER MACHEN"
Jean-Marie Pfaff im Interview

KÖNIGLICH IN KÄRNTEN
Impressionen von Alabas Real-Debüt

Groundhopping
Matchberichte aus Griechenland, Italien, Luxemburg und Slowenien

Cover: Ballesterer

Für Rapid ist es die letzte Chance. Die Wiener haben drei Runden vor Schluss drei Punkte Rückstand auf den Tabellenführer. Und der ist an diesem Samstagnachmittag, dem 5. Juni 1971, zu Gast auf der Pfarrwiese. Es ist Wacker Innsbruck, die Tiroler wollen das erste Mal Meister werden. Hitzig geht es in Hütteldorf zu, zunächst auf den Rängen. Rund 1.000 Fans sind aus Tirol angereist, mit Kuhglocken und Trompeten machen sie bei ihrem Einzug ins Stadion auf sich aufmerksam. Auch Spruchbänder haben sie mitgebracht. Auf einem steht: "Wacker tötet Rapid". Eine halbe Stunde vor Anpfiff wird ein Wacker-Fan von einer Bierflasche getroffen und muss ins Spital gebracht werden.

Danach beginnt der Kampf auf dem Feld. Es ist ein hartes Spiel, ein Foul jagt das nächste. Gehässigkeit wird die APA beiden Mannschaften nach dem Abpfiff attestieren. Erst nach der Pause kommt etwas Struktur in die Partie: In der 47. Minute köpfelt Kurt Jara nach einem Corner zum 1:0 für Wacker ein. Dann beginnt die Druckperiode der Wiener, fünf Minuten vor Schluss gelingt Johnny Bjerregaard der Ausgleich. Doch mit dem 1:1 ist Rapid praktisch aus dem Meisterschaftsrennen und wird das dritte Jahr in Serie keinen Titel holen. Damals eine halbe Ewigkeit.

So lange will man in Innsbruck nicht mehr warten. Dort ist etwas im Entstehen. Die Mannschaft hat mit Tormann Herbert Rettensteiner, den Verteidigern Werner Kriess und Johann Eigenstiller und dem Offensivallrounder Johann "Buffy" Ettmayer vier Teamspieler im Kader. Dazu kommen Kapitän Franz Wolny, der früher für die Nationalmannschaft auflief, und der 20-jährige Jara. Die Mannschaft verfügt über genug Talent, die Liga zu dominieren. Sie schickt sich an, die Wiener Vorherrschaft zu brechen.

Der lange Marsch

Der Weg dorthin war lang – er begann fast auf den Tag genau sieben Jahre früher. Am 6. Juni 1964 fixierte Wacker mit einem 4:1-Sieg über Austria Lustenau den Titel in der Westliga und damit den Aufstieg. Erstmals spielte eine Tiroler Mannschaft in der höchsten Spielklasse. Die Tiroler Tageszeitung räumte der Meldung Platz auf der Titelseite ein, der Verein gründete einen Anhängerklub, der sogar in Vorarlberg Mitglieder fand.

Die Euphorie griff um sich: Während zum vorentscheidenden Match gegen die Lustenauer 4.000 Fans in das Tivoli-Stadion gekommen sind, schauen beim ersten Heimspiel in der Staatsliga schon 16.500 zu. Wacker gewinnt 1:0 gegen Rapid. Nach einem starken Start lassen die Innsbrucker nach, am Ende wird die Mannschaft Achter. Historisch ist die Saison aus einem anderen Grund: Der LASK ist 1965 der erste Meister, der nicht aus Wien kommt. Auch in Tirol ist man über den Erfolg der Oberösterreicher, die auch noch den Cup gewonnen haben, begeistert. Eine Vielzahl von Artikeln in der Tiroler Tageszeitung versucht die Leistungen der Linzer zu erklären – in einem davon heißt es über Meistertrainer Frantisek Bufka: "Er richtete das Hauptaugenmerk auf Kondition, er gab der vorher verspielten und weichen Mannschaft Ausdauer, Kraft und Konzentration."

Wenige Tage nach Erscheinen des Artikels verpflichtet Wacker Innsbruck einen neuen Trainer: Leopold Stastny, wie Bufka Tschechoslowake mit Hang zum Konditionstraining. Stastny hat in seiner Heimat bereits beachtlichen Erfolg gehabt: Mit Slovan Bratislava ist er viermal Meister geworden, 1964 ins Finale des Mitropa-Cup eingezogen. Der neue Trainer beginnt noch im Sommer mit dem Umbau des Kaders. Wacker schafft es zwar nicht wie erhofft, Adolf Blutsch und Paul Kozlicek vom LASK zu verpflichten, doch mit Wolny und Eigenstiller holt Stastny Spieler, die der Mannschaft gleich helfen werden. Die Ambitionen in Innsbruck wachsen. Bevor Wacker in seine zweite Erstligasaison startet, lässt ein Artikel in der Tiroler Tageszeitung die Stimmungslage erahnen. Zwar warnt Reporter Toni Thiel vor zu großem Optimismus, fügt aber an: "Die Spieler müssen allerdings wissen, dass Fußball-Tirol von ihnen mehr erwartet (und verlangt!) als im Premierenjahr."

Hundertstelentscheidung

Fußball-Tirol wird Wacker treu bleiben – die Zuschauereinnahmen sind in der Saison 1965/66 nur bei Rapid höher. Ein Umstand, der voll durchschlägt. Denn im Sommer 1965 hat der ÖFB gegen den Widerstand der Wiener Klubs beschlossen, die Einnahmenteilung zwischen Heim- und Gästemannschaft zu beenden. Die Heimmannschaften erhalten fortan den gesamten Erlös aus Kartenverkäufen. Während sich in Wien mehrere Vereine an einem Wochenende um den Zuspruch der Zuschauer matchen, hat Wacker im Westen Österreichs keine Konkurrenz.

Stastny weiß das Geld auszugeben. Er verstärkt den Kader weiter. Ettmayer kommt von der Austria, Stürmer Helmut Redl von Simmering. Mit ihnen kann die Mannschaft das größte Manko der Vorjahre, die schwache Chancenverwertung, endlich wettmachen. Und auch die körperliche Arbeit des Trainers greift: In der Saison 1966/67 entscheidet Wacker sechs Partien in der letzten halben Stunde für sich und kassiert in der Schlussviertelstunde nur zwei Gegentore. Die Mannschaft steht vor dem großen Coup. Vor dem letzten Spieltag liegt sie nur aufgrund des schlechteren Torquotienten, der damals bei Punktegleichheit entscheidet, hinter Rapid. Die Hütteldorfer müssen zur Admira, Wacker spielt zu Hause gegen Schwarz-Weiß Bregenz. Die Innsbrucker gewinnen 5:1. Nach dem Abpfiff macht im Tivoli ein Gerücht die Runde: Rapid habe nur 3:2 gewonnen, der Quotient von Wacker wäre damit um zwei Hundertstelpunkte besser. "In überschwänglicher Begeisterung stürmten Tausende das Spielfeld und trugen die Spieler des vermeintlichen Meisters vom Feld", schreibt die Tiroler Tageszeitung. "Siber und Wolny wurde vor Freude das Leibchen heruntergerissen." Die Siegesfeier ist einige Minuten alt, als sich herumspricht, dass Rapid 3:1 gewonnen hat – und damit mit sechs Hundertstelpunkten Vorsprung Meister ist. Es ist die knappste Titelentscheidung der Geschichte.

Der Weise aus Ljubljana

So knapp kann Wacker im Jahr darauf die Meisterschaft nicht gestalten, doch die Mannschaft wird abermals hinter Rapid Zweiter. Der Erfolg fordert seinen Tribut, im Sommer 1968 verlieren die Innsbrucker langjährige Stützen. Doch wie weit sie gekommen sind, zeigt sich auch daran, dass die Spieler nicht zu Ligakonkurrenten wechseln. Peter Pumm geht zum FC Bayern, Redl zu den Offenbacher Kickers. Und Leopold Stastny wird vom ÖFB der Teamchefsessel angeboten. Am 30. Juni 1968 sitzt er im Rappan-Cup, einem Vorläufer des UEFA-Pokals, gegen Eintracht Braunschweig das letzte Mal auf Wackers Trainerbank. Der Krone wird er später erzählen, warum er gerne in Innsbruck Trainer war: "Für österreichische Verhältnisse konnte man herrlich arbeiten. Freie Hand für den Trainer, niemand redete dazwischen."

Ihm folgt Branko Elsner. Der 38-Jährige hat zuvor Olimpija Ljubljana trainiert und unterrichtet nebenbei an der Sporthochschule der Stadt. Sein wissenschaftlicher Zugang macht ihn in Österreich zum Vorreiter. "Elsner war drei Stufen über allen anderen Trainern", sagt Werner Kriess. "Er war der Schlüssel zu unserem Erfolg." Kriess kommt zeitgleich mit seinem Trainer zu Wacker, davor spielte der Verteidiger ein Jahr bei der Vienna. Er erleidet einen Kulturschock – im positiven Sinn. In Döbling habe er unter Trainer Alfred Körner im Training immer dasselbe gemacht – auf kleine Tore auf einem kleinen Feld gespielt. Elsner habe stattdessen gewollt, dass die Spieler die Spielanlage verinnerlichen. "Wir haben immer wieder dieselben Spielzüge trainiert", sagt Kriess. "Wenn mich Elsner um drei Uhr in der Früh angerufen hätte, hätte ich gewusst, wo ich stehen muss." Und auch beim Konditionstraining sei der Ball fast immer dabei gewesen. In einem Café drei Gehminuten vom Tivoli entfernt erzählt Kriess lebhaft und pointiert über diese Zeit. An seinem Dialekt hört man, dass der gebürtige Kärntner seit seiner Zeit bei Wacker in Innsbruck lebt, wo er nach der aktiven Karriere als Journalist bei der Krone und dem Kurier arbeitete.

Statthalter Baric

Zwei Jahre dauert es, dann kann die Mannschaft an die Leistungen aus der Stastny-Ära anknüpfen – und sie bald in den Schatten stellen. Am 28. Mai 1970 gewinnt Wacker das Cupfinale gegen den LASK 1:0, es ist der erste große Titel für die Innsbrucker. Doch besonders hohen Stellenwert genießt der Bewerb im alten Machtzentrum des Fußballs nicht, gerade einmal 1.800 Zuschauer verfolgen das Endspiel in der vor Kurzem vor den Toren Wiens errichteten Südstadt.

Also soll im Jahr darauf der Meistertitel her. Die Mannschaft geht fast unverändert in die Saison 1970/71 – erst im Winter muss sie einen Abgang hinnehmen. Elsner wird im Jänner an die Universität in Ljubljana beordert, um sein Diplom abzuschließen. Außerdem wird er Lehrbeauftragter für Theorie und Methodik des Fußballs. Sein Nachfolger wird Otto Baric, es ist dessen erste Trainerstation in Österreich. Er übernimmt Wacker als Tabellenzweiter hinter Austria Salzburg. "Er ist mit seiner Taktiktafel gekommen und hat so lange darauf herumgezeichnet, bis wir uns nicht mehr aus gekannt haben", sagt Kriess. "Dann sind wir aufs Feld gegangen und haben es gemacht wie unter Elsner."

Auch wenn der frühere Verteidiger Barics Rolle herunterspielt, die Ergebnisse sind noch besser als unter dem Vorgänger. Die ersten sieben Spiele im Frühjahr gewinnen die Innsbrucker, am 24. Spieltag übernehmen sie mit einem 6:0-Sieg gegen den GAK die Tabellenführung. Als drei Runden vor Schluss die 1.000 mit ihren Kuhglocken und Trompeten angereisten Innsbrucker das 1:1 bei Rapid sehen, nimmt das den Wienern die letzte Chance auf den Titel. Der größte Konkurrent ist aber in diesem Jahr ohnehin die Austria aus Salzburg. Vor dem letzten Spieltag liegt sie nur einen Punkt hinter den Tirolern. Und während die bei der Meidlinger Wacker antreten, müssen die Salzburger zum Sport-Club nach Dornbach. Gerade einmal sechs Kilometer trennen die beiden Plätze. Die Innsbrucker lassen im strömenden Regen erst gar keine Zweifel aufkommen: Jara trifft in der ersten Halbzeit zweimal, Leopold Grausam in der zweiten – am Ende ist es ein nie gefährdeter 4:2-Sieg. Wacker Innsbruck ist Meister.

Das Tiroler Jahrzehnt

Noch während das Spiel in Meidling läuft, beginnen in Innsbruck die Feierlichkeiten. In der verregneten Innenstadt ertönen Hupkonzerte, an der Fassade des Kaufhaus Tyrol werden die Porträts der Spieler aufgehängt. Um 19 Uhr, das Match ist eine gute halbe Stunde abgepfiffen, verhängt der Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnhöfer eine Freinacht, die Sperrstunde wird damit außer Kraft gesetzt. Die Party wird immer ausgelassener. Irgendwann trägt die Annasäule auf der Maria-Theresien-Straße eine schwarz-grünen Fahne, "Verkehrszeichen und Einbahnregelungen hatten ihre Bedeutung verloren", schreibt die Tiroler Tageszeitung. 25.000 Leute drängen sich laut Schätzung der Polizei in der Innenstadt. Als um halb vier der Mannschaftsbus die Stadt erreicht, trotzen noch immer 5.000 dem Wetter. Sie zerren die Spieler nach und nach in den Regen. "Wir haben eh nichts gemerkt", sagt Kriess. "Wir waren so zu." Bis in die Früh feiert die Mannschaft mit ihren Fans. Am folgenden Montag erscheint die nächste Tiroler Tageszeitung, sie ist voll mit Bildern der Partynacht.

Als die Mannschaft aus ihrem Rausch erwacht, trägt sie einen anderen Namen: Spielgemeinschaft Swarovski Wacker Innsbruck. Der Kooperationspartner ist die WSG Wattens, die zwischenzeitlich auch in die erste Liga aufgestiegen ist. Zwei Vereine ganz oben wären für das Bundesland zu viel gewesen, befinden die Funktionäre beider Klubs. In den letzten Meisterschaftswochen haben sie die Fusion der Kampfmannschaften beschlossen. Die Spieler sind aufgrund des gestiegenen Konkurrenzdrucks nicht begeistert, der Kaderstärke ist es aber dienlich. Mit Ettmayer und Helmut Senekowitsch verlassen zwei Leistungsträger den Verein, doch aus Wattens schaffen die Brüder Friedl und Peter Koncilia, Walter Skocik und Engelbert Kordesch den Sprung in die Startelf. Elsner kehrt aus Ljubljana zurück, mit ihm kann die Mannschaft 1972 und 1975 den Titel gewinnen. Die Tiroler Spielgemeinschaft ist in jenen Jahren die unumstritten beste Mannschaft des Landes.

Als Leistungsträger wie Jara 1973 nach Valencia und Ove Flindt-Bjerg 1975 zum Karlsruher SC gehen, können die Tiroler die Abgänge locker wegstecken. Schließlich rücken Spieler wie Bruno Pezzey, Robert Auer und Kurz Welzl nach. 1977 gewinnt die Mannschaft aus Innsbruck ihren fünften Meistertitel, im Jahr darauf wird sie noch Dritter. Doch schon zwei Wochen vor dem fünften Cupsieg im Juni 1979 steht das Team als Absteiger fest. "Uns ist es gegangen wie vielen großen Mannschaften", sagt Werner Kriess, der nach dem Abstieg nach Bregenz wechselt. "Wir hätten neue Impulse gebraucht. Und die sind nicht gekommen." (Moritz Ablinger, 21.9.2021)