Else, dargestellt von einer Schauspielerin und einer Tänzerin.

Foto: Anja Köhler

Die alte Ordnung, sie ist zerstört: Ein Haufen umgestürzter Schiedsrichterstühle türmt sich im Bühnenhintergrund auf. Johannes Lepper benötigt für seine Ödipus-Inszenierung am Landestheater Vorarlberg kaum mehr Utensilien. Im Halbrund wird der Raum begrenzt von einer schnürbodenhohen Leinwand, über die Videobilder heutiger (Natur-)Katastrophen ziehen. Lepper nähert sich dem antiken Drama mit sparsamen Mitteln an. Er setzt ganz auf die Kraft des Textes – und die seines jungen Ensembles. Die Bühne ist leer und weiß. Auch die Kostüme von Monika Gebauer sowie die maskenhaft geschminkten Gesichter zitieren die Antike.

Lepper und sein starkes Ensemble erzählen schnörkellos Ödipus’ tragische Geschichte einer unabwendbaren Weissagung. Die Inszenierung fragt: Wie viel Schuld steckt im eigenen Handeln? Denn: Dem thebanischen Königssohn Ödipus wurde prophezeit, er würde seinen Vater töten und mit seiner Mutter Kinder zeugen. Er flieht und rennt doch zielgenau in Richtung der Erfüllung dieser Drohung.

Der junge David Kopp spielt diesen Ödipus mit flirrender Spannung. Er macht sich auf dem Tischchen an der Seite Kaffee und setzt sich wie beiläufig die Krone auf, dann ist er arrogant-selbstbewusst, ein aufbrausend-aggressiver Herrscher. Wie langsam die grausame Erkenntnis in ihn hineinsickert, dass er selber der gesuchte Mörder ist, zeigt Kopp mit erschütternder Monstrosität. In knapp zwei Stunden peitschen vier Schauspieler und zwei Schauspielerinnen sowie der Gitarrist diesen Thriller um Schuld, Schicksal und Verantwortung hochkonzentriert über die Bühne. Am Ende zitiert die Regie Antigone: Die Geschichte geht weiter. Die sechs Schiedsrichterstühle sind aufgerichtet. Die brüchige Ordnung ist für den Moment wiederhergestellt. Aber zu welchem Preis?

Die Gegenleistung

Die zweite Premiere dieses Eröffnungswochenendes, Else (ohne Fräulein) von Thomas Arzt, beginnt heiter. Alte Schlager plätschern aus den Lautsprechern in der Box, der Nebenspielstätte des Landestheaters. Die 15-jährige Titelheldin macht Ferien im Hotel der Tante. Doch im Zuge des unbeschwerten Aufenthalts baut sich ein Konflikt auf. Else meint, in der Person eines Hotelgastes den Richter ihres angeklagten Vaters zu erkennen und ihn wohlstimmen zu müssen. So hievt Arzt den Stoff der Novelle Arthur Schnitzlers (1929) in heutige Lebensumstände: Else – mit der erwachender Sexualität hadernd, mit Versagensängsten, Teenagerquatsch und Erwachsenwerden – fühlt sich verantwortlich, ihrem Vater zu helfen, und beim Richter ein gutes Wort für ihn einzulegen. Doch der verlangt eine Gegenleistung. Else kämpft um ihre Würde, um ihren Vater, und dann um ihr Leben.

Mit der nun aus der letzten Spielzeit nachgereichten Inszenierung gibt Birgit Schreyer Duarte ihr Regiedebüt in Europa. Die in Ulm geborene, in München ausgebildete Theaterwissenschafterin und Übersetzerin war bisher in Kanada tätig und bringt ihre dort erfahrene interdisziplinäre Prägung nun in Bregenz ein. Else wird zugleich von einer Schauspielerin (Maria Lisa Huber) und einer Tänzerin (Silvia Salzmann) gespielt. Die beiden Darstellungsweisen ergänzen sich, sie treiben sich gegenseitig an, trösten sich, stützen sich – die Zerrissenheit der Figur wird poetisch greifbar.

Huber hat die Rolle bereits bei der Uraufführung 2019 im Phönix-Theater Linz gespielt, damals als eine von drei Else-Varianten.

Stimmig ist auch die Ausstattung (Bartholomäus Martin Kleppek, Marina Deronja), die dreh- und aufklappbare Bühnenbox ist Hotelzimmer, Veranda, Bar oder Boot. Sie kreist wie die Gefühlswelt eines Teenagers, öffnet sich, wird abrupt geschlossen. Es war insgesamt ein würdiger Start in die Saison. (Julia Nehmiz, 21.9.2021)