Justin Trudeau – hier mit Ehefrau Sophie – dürfte Kanadas Ministerpräsident bleiben.

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Ottawa – Nach sechs Jahren dürfte sich der Glanz von Kanadas jungem Premier Justin Trudeau abgenutzt haben. Seine Liberale Partei hat Prognosen zufolge die vorgezogene Parlamentswahl zwar gewonnen – ist aber deutlich hinter dem Ziel einer absoluten Mehrheit geblieben. Die Regierungspartei errang 158 Mandate und ließ die Konservativen von Kontrahent Erin O'Toole mit vermutlich 119 Sitzen hinter sich.

Im flächenmäßig zweitgrößten Land der Erde ändert sich damit gegenüber der Wahl von 2019 kaum etwas – für eine absolute Mehrheit wären 170 Mandate notwendig gewesen. Trudeau ist auch künftig auf die Hilfe anderer Parteien angewiesen. Die Regionalpartei aus Quebec kam in den Prognosen auf 34, die Mitte-Links-Partei der Neuen Demokraten (NDP) kam in den Prognosen auf ungefähr 25 Sitze und die Grünen erreichten demnach voraussichtlich zwei Mandate.

Das Ergebnis gebe ihm ein klares Mandat für eine Regierungsbildung, sagte Trudeau am Dienstag. O'Toole räumte bereits seine Niederlage ein. Er habe Trudeau angerufen, um ihm zu gratulieren, sagte er in seinem Heimatwahlbezirk außerhalb von Toronto.

DER STANDARD

Poker dürfte misslungen sein

Der 49-jährige Trudeau hatte die vorgezogene Abstimmung vor wenigen Wochen mit der Hoffnung auf eine absolute Mehrheit unter anderem aufgrund der relativ erfolgreichen Corona-Politik seiner Regierung ausgerufen. Seine Rechnung ging scheinbar nicht auf, was einen mehr als faden Beigeschmack hinterlassen dürfte.

Die Umfragen waren zuletzt knapper gewesen, als die Liberalen sie sich gewünscht hatten. Die Spitzenkandidaten der anderen Parteien und viele Kanadier hatten ihnen vorgeworfen, trotz einer vierten Welle der Pandemie und einer relativ stabilen Minderheitsregierung nach der absoluten Mehrheit zu greifen – und damit Zeit im Kampf gegen Covid-19 zu verschwenden sowie die Gesundheit der Wähler zu gefährden.

Generell kommt Trudeaus Liberalen das Wahlsystem in Kanada eher zugute. Die Mandate in den 338 Wahlbezirken werden nach dem Prinzip der relativen Mehrheit verteilt. Entscheidend sind lediglich einige Dutzend umkämpfte Bezirke vor allem in den Vorstädten der Großstädte Toronto, Montreal und Vancouver – ein wenig vergleichbar mit den "Swing States" in den USA. Trudeau regiert das dünn besiedelte Land mit knapp 38 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern seit 2015 – seit 2019 nur noch mit einer Minderheit der Parlamentssitze.

Koalitionen unüblich

Traditionell gibt es in Kanada keine Koalitionen, sondern entweder absolute Mehrheiten oder Minderheitsregierungen mit durchschnittlich zweijähriger Dauer. Die letzte Wahl im Herbst 2019 brachte den Liberalen 157 Sitze, die Konservativen errangen 121. Die Liberalen haben im politisch moderaten Kanada historisch gesehen am häufigsten Regierungen gestellt. In diesem Wahlkampf dominierten neben der Klimakrise vor allem innenpolitische Themen wie die steigenden Lebenshaltungskosten und die Gesundheitsversorgung.

Trudeau hat Experten und Meinungsforschern zufolge trotz einiger politischer Erfolge ein Glaubwürdigkeitsproblem in Teilen der Bevölkerung entwickelt. Das habe mit großen, aber nicht immer gehaltenen Versprechungen und mehreren Skandalen zu tun. (red, APA, dpa, 21.9.2021)