Auf den Intensivstationen gebe es wenig Verständnis für Ungeimpfte, sagt der Intensivmediziner Walter Hasibeder.

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Die Bettenbelegung auf den Intensivstationen wurde zur zentralen Kennzahl des Pandemiemanagements gemacht. Doch wie verlässlich sind die Zahlen? Der Intensivmediziner und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), Walter Hasibeder, vermutet unterschiedliche Zählweisen in den Bundesländern.

STANDARD: Die zusätzliche Belastung der Intensivstationen durch Covid-Patientinnen und -Patienten beträgt österreichweit derzeit gut zehn Prozent. Was bedeutet das?

Hasibeder: Ab einer Belastung von zehn Prozent muss man immer mehr elektive Operationen verschieben oder absagen, damit man die Intensivstationen adäquat betreuen kann. Ab 30 Prozent wird es wirklich kritisch: Es kommt zunehmend zu Engpässen auf den Intensivstationen. Immer mehr geplante Operationen müssen längerfristig verschoben werden. Personal, vor allem aus dem Anästhesiebereich, muss in den Intensivbereich verschoben werden. Operationssäle werden für den Routinebetrieb gesperrt. Übersteigt die Zusatzbelastung 50 Prozent der Intensivbetten, muss der chirurgische Routinebetrieb im großen Maß eingeschränkt werden. Die Qualität der medizinischen Versorgung ist nicht mehr gegeben. Für manche Patientinnen und Patienten kann eine Versorgung auf gewohnt hohem Niveau nicht mehr durchgeführt werden. Das System nähert sich dem Kollaps.

STANDARD: In Wien wurden einzelne Operationen bereits vor dem Erreichen der Zehn-Prozent-Grenze abgesagt. Wie kann das sein?

Hasibeder: In einem Zentrumspital mit viel Herz-, Gefäß-, Thorax- und Neurochirurgie gibt es bereits im Vorhinein Belegungen von über 90 Prozent auf der Intensivstation. Das heißt: Hier gibt es dauernd Platznot. Und wenn dazu noch Covid-Patientinnen und -Patienten kommen, dann werden Sie bald Operationen verschieben müssen. In einem Krankenhaus mit durchschnittlicher Intensivbelastung von 70 bis 75 Prozent ist man hingegen in der Lage, zusätzlich bis zu zehn Prozent Covid-Patientinnen und -Patienten aufzunehmen, bevor man OPs verschieben muss. Aber auch in diesen Krankenhäusern kommt es vor, dass die Intensivstationen, auch ohne Corona, voll sind: In Wellen kommt es immer wieder zur Aufnahme von Patientinnen und Patienten mit lebensbedrohlichen Infektionen, zum Beispiel im Bauchraum. Vor allem ältere Menschen mit so einer Diagnose müssen dann lange auf der Intensivstation liegen. Im Winter haben wir zum Beispiel sehr viele Milz- und Leberverletzungen oder Serienrippenfrakturen, auch diese Patientinnen und Patienten müssen oft einige Tage auf der Intensivstation liegen.

Walter Hasibeder ist Intensivmediziner und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin.
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STANDARD: Vergangenes Frühjahr haben Sie die Intensivbettenstatistik der Ages kritisiert. Hat man nun einen besseren Überblick?

Hasibeder: Ich hoffe, dass nun nicht mehr so getrickst wird wie im Frühjahr. Damals wurden zum Beispiel in einem Bundesland Covid-Patientinnen und -Patienten nur in der ersten Woche auf der Intensivstation als solche gezählt, danach nicht mehr. Man hat einfach gesagt: Sie sind wahrscheinlich nicht mehr ansteckend, also werden sie auch nicht mehr als Covid-Patientinnen und -Patienten gezählt. Was natürlich kompletter Nonsens war. Das kommt nun hoffentlich nicht mehr vor. Trotzdem vermute ich, dass es vor allem in der Zählung der tatsächlich verfügbaren Intensivbetten noch Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern gibt.

STANDARD: Welche Auswirkung hat das?

Hasibeder: Manche Bundesländer rüsten etwa eine Normalstation mit High-Flow-Sauerstoffsystemen aus und bezeichnen das als erweiterte Intensivstationsstruktur – oder sie zählen es sogar als Intensivbetten. Diese Betten haben nichts mit Intensivbetten zu tun, da das entsprechend qualifizierte Fachpflegepersonal und auch die entsprechend qualifizierten Medizinerinnen und Mediziner fehlen. Am Anfang kann man mit derartigen Systemen die Sauerstoffaufnahme von Patientinnen und Patienten oft verbessern und längere Zeit aufrechterhalten. Das Problem ist aber, dass die Schleimhäute vor allem älterer Patientinnen und Patienten mit vermindertem Durstgefühl dramatisch austrocknen und man leicht den richtigen Zeitpunkt des Wechsels auf ein invasiveres Beatmungssystem versäumt. Aber auch die zusätzliche Schaffung "echter" Intensivkapazitäten geht nicht von heute auf morgen, da eine qualifizierte Fachpflege über Jahre ausgebildet wird und wir diese Expertinnen und Experten nicht einfach aus dem Boden stampfen können.

STANDARD: Auf dem Dashboard der Ages werden auch zusätzlich verfügbare Intensivbetten für Covid-Patienten ausgewiesen. Worum handelt es sich dabei?

Hasibeder: Ich weiß nicht, wie die Ages diese Betten berechnet, aber sie bekommt täglich Meldungen über Intensivkapazitäten aus den Bundesländern. Wenn ich auf der Intensivstation voll bin, dann kann ich aber keinen zusätzlichen Intensivpatienten aufnehmen, unabhängig davon, ob er Corona hat oder nicht. Man müsste dann etwa Nicht-Covid-Patienten zum Beispiel in den Aufwachräumen behandeln. Auch diese sind in Österreich unterschiedlich gut ausgerüstet.

STANDARD: Inwiefern?

Hasibeder: Es gibt momentan keine offiziellen Empfehlungen, wie Aufwachräume personell und strukturell ausgestattet sein sollen. Dabei sind Aufwachräume eine wichtige Reservekapazität im intensivmedizinischen Bereich. In der Regel ist dort jeder Stellplatz mit einem eigenen Sauerstoffanschluss, Druckluft, Absaugung und einem Monitoringsystem ausgestattet. Laut Empfehlungen von Gesundheitsexpertinnen und -experten sollte es zumindest eine qualifizierte Fachpflegeperson pro drei Aufwachraumbetten geben. Dafür gibt es aber noch keine allgemeingütigen Vorgaben.

STANDARD: Laut einem Bericht der Gesundheit Österreich (GÖG) ist aufgrund der sehr hohen Systembelastung der Intensivstationen in der zweiten Welle davon auszugehen, dass die medizinischen Kriterien für die Vergabe von Intensivbetten stringenter ausgelegt werden mussten. Kam es also zu Triagen?

Hasibeder: In der Kriegsmedizin bedeutet Triage, dass ein Patient mit geringen Überlebenschancen von Behandlung ausgeschlossen oder nur palliativ behandelt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in Österreich jemals in einer derartigen Situation waren. Ich kann mir aber vorstellen, dass Therapiezieländerungsentscheidungen, wie man sie auch regulär auf einer Intensivstation macht, unter dem Druck der Pandemie früher gefallen sind.

STANDARD: Was bedeutet das in der Praxis?

Hasibeder: Der Behandlungsplan auf einer Intensivstation richtet sich in der Regel nach der Schwere der Vorerkrankungen und der körperlichen Leistungsfähigkeit eines Patienten vor Aufnahme auf einer Intensivstation. Das aktuelle Alter spielt dabei eher eine untergeordnete Rolle. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein Patient zunächst intensivmedizinisch behandelt wird, aber dass wir im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstands aufgrund der schlechten Überlebensprognose auf mechanische Wiederbelebungsmaßnahmen verzichten. Im weiteren Verlauf verschlechtert sich der Zustand dieses Patienten – und der vorher festgelegte Therapiekorridor wird auf seine Sinnhaftigkeit überprüft und neu definiert. Zum Beispiel wird im Team beschlossen, dass bei Verschlechterung des Gasaustausches nicht mehr künstlich beatmet wird, da aufgrund der sich verschlechternden Überlebensprognose die medizinische Indikation für die intensivtherapeutischen Maßnahmen fehlt. Derartige Entscheidungen werden auf professionell geführten Intensivstationen laufend und im Konsens mit anderen behandelnden Fachdisziplinen, etwa den Chirurginnen und Onkologen, getroffen. Im Rahmen der Covid-19-Pandemie kann es durchaus sein, dass derartige Entscheidungen aber oft früher als in "normalen" Zeiten getroffen wurden.

STANDARD: Was hat man bei der Behandlung von Covid-Patientinnen und -Patienten bisher gelernt?

Hasibeder: Leider gar nicht so viel. Es ist nun Routine, dass wir allen Patientinnen und Patienten Kortikosteroide verabreichen. Aber man muss dazusagen: Der Effekt aus frühen Studien, wonach die Sterberate schwer Erkrankter um 18 Prozent gefallen ist, lässt sich in neuen Untersuchungen nicht mehr nachweisen. In neueren Studien liegt die Abnahme der Sterblichkeit nur mehr bei etwa zwei Prozent. Was die therapeutische Blutverdünnung betrifft, haben kürzlich publizierte Studien ein stark ernüchterndes Ergebnis erbracht: Wenn man bereits schwer erkrankt auf der Intensivstation liegt, bringt eine therapeutische Blutverdünnung gar nichts mehr. Sie hilft aber auf der Normalstation bei einer beginnenden Pneumonie. Eine große Studie zeigt, dass derart behandelte Patienten weniger häufig intensiv beatmet werden müssen und auch weniger häufig sterben. Ähnliches gilt für die Plasmatherapie mit Rekonvaleszentenserum: Bei Schwerkranken hat diese Therapie nichts gebracht. Möglicherweise profitieren vereinzelt Menschen im Frühstadium der Erkrankung. Auch die Therapieerfolge mit Immunmodulatoren sind nicht berauschend. Möglicherweise verbessert hier das Medikament Tofacitinib, das die Wirkung von Botenstoffen der Entzündung auf menschliche Zellen vermindert, die Prognose. Letztlich hat auch der Einsatz von Virostatika wie zum Beispiel Redemsivir die Prognose der Erkrankung nicht verbessert.

STANDARD: Wie geht es dem Personal damit?

Hasibeder: Gerade auf der Intensivstation, wo wir viele Covid-Patientinnen und -Patienten behandelt haben, gibt es wenig Verständnis dafür, sich nicht impfen zu lassen. In der letzten Welle hatten wir so viele Tote. Bei unseren intubierten und beatmeten Patienten – wir hatten ein Medianalter von 72 Jahren, aber durchwegs fitte Menschen – beobachteten wir eine Mortalität von 70 Prozent. So etwas habe ich davor noch nicht erlebt. Das belastet die Pfleger und Ärztinnen enorm. An einem Tag hat man den Eindruck, die Entzündungsreaktion nimmt etwas ab und der Zustand des Patienten verbessert sich, zwei Tage später schießt sie wieder hoch, und nach zwei Wochen schließlich muss man beobachten, wie die Lunge komplett zerstört ist. Dazu kommt die Verkleidung, die man für die Behandlung dieser Patienten braucht: FPP3-Masken, Sichtschutz, Plastikumhang. Das ist körperlich anstrengend, man schwitzt darin ungeheuerlich. Auch Pausen sind nicht so einfach möglich, weil man sich aus den Covid-Stationen ausschleusen muss und sehr darauf achtet, sich nicht zu kontaminieren. Diese Hygienemaßnahmen müssen auch Geimpfte nach wie vor aufrechterhalten, um das Virus nicht weiterzutragen. Beatmete Patienten sind zudem unglaublich pflegeaufwendig. Um sie mit dem Tubus und all den Beatmungsschläuchen sicher in die Bauchlage zu bringen, braucht es meist sechs Pflegepersonen.

STANDARD: Wie wird sich die Lage Ihrer Einschätzung nach entwickeln?

Hasibeder: Wenn die Impfrate nicht rasant zunimmt oder man effektive Maßnahmen gegen die Verbreitung der Erkrankung setzt, steuern wir auf eine Situation wie im vergangenen Herbst zu. Die effektivste und rascheste Maßnahme, um die Infektionszahlen zu drücken, wäre meiner Meinung nach das Tragen der Maske. Sie sollte in allen geschlossen Räumen, Geschäften und Veranstaltungsräumen richtig getragen und Verstöße dagegen auch entsprechend sanktioniert werden. (Eja Kapeller, 23.9.2021)