Statt kleiner zu werden, dehnt sich die weltweite Kluft bei der Verteilung von Corona-Schutzimpfungen immer weiter aus. 80 Prozent der in den vergangenen zehn Monaten verabreichten sechs Milliarden Impfstoffe kamen der Bevölkerung von Staaten mit hohem und gehobenem mittlerem Einkommen zugute, während sich ihr Anteil vor allem in den Armutsstaaten Afrikas auf 0,4 Prozent beschränkt. Der von Fachleuten als "Impfstoff-Apartheid" bezeichnete Trend wird sich im Lauf dieses Jahres womöglich noch verschlimmern: Kürzlich kündigte die für die Lieferung von Impfstoffen an hilfsbedürftige Länder zuständige Organisation Covax eine Reduzierung ihrer Zustellungen von Impfdosen um 25 Prozent an.

Damit werden höchstens 17 Prozent der afrikanischen Bevölkerung noch in diesem Jahr zumindest teilweise geschützt werden können – beabsichtigt waren 40 Prozent. Diese "atemberaubende Ungleichheit" könne den Kontinent in eine "Brutstätte impfstoffresistenter Covid-Varianten" verwandeln, warnte Mathsidiso Moeti, Afrika-Direktorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), kürzlich: "Die Welt droht auf den Ausgangspunkt des Kampfes gegen das Virus zurückgeworfen zu werden."

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Mitglieder der militaristischen Links-außen-Partei Economic Freedom Fighters (EFF) demonstrieren in Pretoria für Impfungen.
Foto: Reuters/Sibeko

Anlass der weiteren Verschärfung des Trends ist die Absicht der Regierungen der Industrienationen, ihre Bevölkerung durch zusätzliche Booster-Injektionen zu schützen und auch Kinder zu impfen. Dadurch wird die Zahl der Covax zur Verfügung stehenden Dosen weiter verknappt: Statt der ursprünglich beabsichtigten zwei Milliarden Rationen werden der Organisation weit weniger als die Hälfte zur Verfügung stehen. Bis heute hat Covax weniger als 300 Millionen Dosen verteilt. Gerechtigkeit bei der Verteilung von Impfstoffen sei eine der größten Herausforderungen der Gegenwart, so WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus: "Und wir scheitern daran."

Covax war im April 2020 von privaten und staatlichen internationalen Organisationen wie der WHO, der EU-Kommission, der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung sowie der Impfallianz Gavi gegründet worden, um auch Armutsstaaten den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen. Bald stellte sich jedoch heraus, dass die von Regierungen zugesagten Mittel für den Kauf einer ausreichender Zahl an Impfstoffen nicht ausreichen würden. Als noch verheerender erwies sich jedoch die Tatsache, dass die Impfstoffe nicht zugänglich waren. Bislang sei "keine einzige Ration" eines Impfstoffs aus europäischer Herstellung an Covax geliefert worden, teilte Strive Masiyiwa im vergangenen Monat mit – der simbabwische Geschäftsmann war von der Afrikanischen Union (AU) mit der Beschaffung von Impfstoffen beauftragt worden.

Indischer Exportstopp

Europäische Regierungen sollen Masiyiwa immer wieder auf das indische Serum-Institut verwiesen haben, das unter Lizenz das britische Vakzin Astra Zeneca herstellt. Während einer verheerenden dritten Covid-Welle stoppte Indien Ende März dieses Jahres jegliche Ausfuhr des Impfstoffs, noch immer wurde der Export nicht aufgenommen. Statt der beabsichtigten einen Milliarde Dosen bis Ende dieses Jahres hat das Serum-Institut bisher lediglich 20 Millionen geliefert. Nur ein Fünftel der rund eine Milliarde Inder sind inzwischen zweimal geimpft, gut eine halbe Milliarde wenigstens einmal.

Die Tendenz in den Industrienationen, die eigene Bevölkerung mit einer dritten oder – wie in Israel – sogar einer vierten Impfung zusätzlich zu schützen, ist in Fachkreisen umstritten. Wirkungsvoller sei es, eine möglichst große Zahl an Menschen mit wenigstens einer Injektion teilweise zu schützen, um auf diese Weise die Gefahr von Mutationen und der Entstehung neuer Virusvarianten möglichst gering zu halten. Selbst Mehrfachimpfungen können sich für neue Virusvarianten als weniger wirksam oder gar als wirkungslos erweisen.

Patentrecht

Afrikas Regierungen bemühen sich derzeit, die Herstellung von Impfstoffen auch auf dem eigenen Kontinent möglich zu machen. Bis es so weit ist, werden nach Auffassung von Fachleuten jedoch Jahre vergehen. Erst seit kurzem wird in Südafrika der Impfstoff des US-Pharmakonzerns Johnson & Johnson zumindest abgefüllt. Pläne von Biontech und Pfizer für eine Vakzinherstellung am Kap der Guten Hoffnung stehen noch in der Anfangsphase. Südafrikas Vorstoß, bei der Welthandelsorganisation (WTO) für eine vorübergehende Aufhebung des Patentrechts bei den Covid-Impfstoffen zu sorgen, scheiterten bisher vor allem am Widerstand Deutschlands. Dagegen protestierten am Wochenende tausende Aktivisten – darunter mehrere Nobelpreisträger – in mehreren Teilen der Welt.

Die US-Regierung bereite derzeit eine Initiative zur Lieferung von 500 Millionen Dosen nach Afrika vor, heißt es in Washington. Doch auch die Ankündigung der G7-Staaten, eine Milliarde Impfstoffrationen in "arme Länder" zu schicken, ist zumindest bislang nicht verwirklicht worden. "Wir zählen keine Versprechungen mehr", sagt AU-Beauftragter Masiyiwa. "Wir zählen nur noch, was in Kisten auf unseren Flughäfen ankommt." (Johannes Dieterich, 21.9.2021)