Ein Gespenst geht um in Europa. Nein, es ist nicht das Gespenst des Kommunismus. Es ist das Virus mitsamt seinen Nebenwirkungen. Diese können gesellschafts- und demokratiepolitisch noch markant ausfallen. Kommende Wahlen werden zeigen, wie stark der Konsens und Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft ausgeprägt ist oder wie sehr sich - analog zur Flüchtlingskrise 2015 - zwei Lager, im neuen Fall jene der Impfbefürworter und jene der Impfgegner, gegenüberstehen werden.

Ein besonders interessanter Stimmungstest für die österreichische Innenpolitik werden die Bundespräsidentenwahlen. Hier könnte es trotz eines möglichen Wiederantritts von Alexander Van der Bellen zu einer ähnlichen Situation wie 2016 kommen. Diesmal nicht aufgrund der Einflussgröße Flüchtlingskrise, sondern der Störvariable Corona-Pandemie. Die Freiheitlichen werden höchstwahrscheinlich Norbert Hofer - ihr größtes Ass im Ärmel um die Präsidentschaft - erneut antreten lassen und das Thema “Freiheit“ und “Impfzwang“ rauf und runter spielen.

Lagerbildung findet durch die Impfung statt.
Foto: REUTERS/Stephane Mahe

Missbrauch der Angst: Lagerbildung und Stigmatisierung

Angst ist ein emotionaler Zustand, der durch Anspannung, Besorgtheit, Nervosität, innere Unruhe und Furcht vor zukünftigen Ereignissen gekennzeichnet ist. Den beschriebenen Zustand oder Status haben im Rahmen der Pandemie sicher viele von uns schon erlebt und einige erleben diesen weiterhin. Wie man bekanntlich weiß, ist Angst jedoch kein guter Ratgeber und schon gar nicht in einer veritablen Krise. Umso gedankenloser und kurzsichtiger ist es von den politischen Entscheidungsträgern, ohne jegliche Differenzierung eine Lagerbildung und Spaltung der Bevölkerung sehenden Auges zuzulassen oder dieses Phänomen billigend in Kauf zu nehmen. Alles passiert unter dem Deckmantel der Verantwortung, einem damit verbundenen manifesten Druck und mehr oder minder einer Stigmatisierung ebenjener, die sich gegen die Impfung oder noch nicht entschieden haben. Die FPÖ und andere Protestbewegungen reiben sich die Hände.

Kollektivneurose

Dennoch ist es im Sinne der eigenen freien Entscheidung fragwürdig, wenn eine Maßnahme wie die Impfung einer Gruppe an Menschen mehr oder minder aufgezwungen werden muss. Denn wenn Menschen gute Angebote gemacht werden, die mit sachlichen Argumenten untermauert werden, werden diese im Großen und Ganzen gerne angenommen. Die Folge der undifferenzierten Kampagnen und der damit wahrgenommenen Propaganda ist nahezu eine Neurotisierung der Gesellschaft. Die einen haben trotz Impfung die Angst, angesteckt zu werden, ihre Freiheit nicht schnell genug wieder zu erlangen oder gar wegen der Impfgegner in einen neuen Lockdown zu müssen. Und der Rest weiß entweder nicht in welche Richtung er sich entscheiden soll oder stellt sich generell aus Gründen der Reaktanz gegen das System quer. Einige Menschen verhindern, so der dahinterliegende Narrativ, dass alle anderen zur Normalität zurückkehren können. Die weniger Impfwilligen sind fahrlässig und die Spielverderber. So sieht nachhaltige und kluge Politik aus, die alle Bürger gleichermaßen berücksichtigt. Diese Rechnung ist leider zu einfach und wird der Komplexität des Erregers - der Terminus ist auf physiologischer, sozialer und psychischer Ebene zu verstehen - nicht gerecht.

Hier spricht die Wissenschaft: Biopsychosoziales Rahmenmodell

Nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell sind biologische, psychologische und soziale Faktoren für sich genommen und in ihren komplexen Wechselwirkungen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten zu berücksichtigen. Legen wir dieses Modell etwas kreativer auf die Corona-Situation um, so wird einem schnell klar, dass die Regierung zwar auf naturwissenschaftlicher Ebene Virologen, Mediziner, Simulations- und Komplexitätsforscher eingebunden hat, jedoch dem psychosozialen Faktor weniger Gewicht beigemessen hat. Auf der einen Seite die Medizin und "die Wissenschaft" und auf der anderen Seite die rein Emotionsgesteuerten. So oder so ähnlich könnte das Modell des hier herumschwurbelnden, unreflektierten psychologischen (“Minderwertigkeits“-)Komplexitätsforschers lauten. Wie lehrt uns jedoch Gott sei Dank der Titel einer Dokumentation über Wau Holland, einem der Gründer des Chaos Computer Clubs, "Alles ist Eins. Außer der 0." (Daniel Witzeling, 27.9.2021)

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