Wallfahrt ins konservative Glück: Sebastian Kurz (Mi.) begleitete unlängst den Niederösterreichischen Bauernbund nach Mariazell.

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Vor gar nicht allzu langer Zeit erkannte man Konservative auch ohne getönte Brillen: an den von ihnen proklamierten Tugenden. Der konservativen Orientierung am Gemeinsinn entsprach der Wunsch, Werte hochzuhalten, um den gesellschaftlichen Status quo zu bewahren – und sei es in Lederhosen vom Kaufhaus-Wühltisch. Zugleich drückt das konservative Werteparadoxon ein Dilemma aus. Wer sich aus freien Stücken an Gott und Vaterland bindet, paktiert mit der Ewigkeit. Zugleich plädiert der Konservative, weil er das Produkt seiner eigenen und eben keiner anderen Zeit ist, für die Bewahrung der jeweils gültigen Ordnung. Und diese ist, wie jeder Digital Native weiß, keineswegs unumstößlich.

Einen Ausweg aus der Zwickmühle weist Natascha Strobls beredter Essay "Radikalisierter Konservatismus". Mit der konservativen Selbstverpflichtung auf Werte hält sich die Autorin nicht lange auf. Sie erklärt sich und uns den klassischen Konservatismus zum Ausdruck von konsequentem Irrationalismus. Seinen Verfechtern gehen Ordnung und Eigentum über alles. Religiöser Glaube rangiere turmhoch über dem Vernunftgebrauch. Dort, im Ungleichheitsdenken und im konsequenten Antisozialismus, finden sich denn auch die Überschneidungen mit dem Faschismus.

Bürgerliche Rohheit

Um die gewaltige Strahlkraft der Neuen Rechten auf konservative Milieus plausibel zu machen, bedient sich Strobl eines klugen Beiworts. Sie spricht von "roher Bürgerlichkeit": Unter einer dünnen Schicht von Benimmregeln wurzelt autoritäres Denken. Standesdünkel und Angst vor sozialer Deklassierung artikulieren sich plötzlich "auf der Höhe der Zeit". Der Kampf gegen die nicht so Fitten und Leistungsfähigen wird von den radikalisierten Konservativen voller Hingabe geführt, und zwar neoliberal, im Namen von Effizienz und Nützlichkeit.

Radikalisierter Konservatismus hat, so Strobl, den alten Grundwiderspruch durch einen nicht weniger paradoxen ersetzt. Dieser beansprucht beides: den Bruch mit der Ordnung – und die Bewahrung einer Kontinuität, die er zu seinen Gunsten dreht. Der Witz der Sache steckt in einer Art Bilokation. Ein populistischer Radikalkonservativer wie Donald Trump besetzt eine Position außerhalb des Systems. Und er bedient sich dabei einer altehrwürdigen Partei wie der republikanischen, die er seinen bizarren Launen unterwirft. Nicht viel anders hielt es Sebastian Kurz mit der ÖVP: Er "kaperte" die Volkspartei, lackierte sie türkis um und gebärdet sich seither als Revoluzzer, der einen "neuen Stil" verspricht, um bloß nicht als zu spießig zu erscheinen.

Praxis des Bruchs

Zahllos sind die Analysen, die die Politologin in ihrem Büchlein komprimiert hat. Die Aufkündigung jedes Konsenses mit den Mitbewerbern und mit sozialliberalen Milieus geht Hand in Hand mit einer Praxis des Regelbruchs. Trump, Kurz und Co entfesseln "Kulturkämpfe". Sie unterscheiden strikt zwischen Freunden und Feinden, und sie drehen am Erregungs-Thermostat. Den Umgang mit allen "Gegnern" habe der radikalisierte Konservatismus direkt aus dem Regelbuch des Rechtsextremismus abgepaust.

So nehmen die entkernten rechten "Leaderparteien" bei Bedarf auch ehrwürdige Institutionen unter Dauerbeschuss, Justiz, Parlament, Medien. Radikale Konservative etablieren mit großem Geschick "Parallelwelten" und sorgen gezielt für Aufmerksamkeitsverschiebungen. Man muss Strobls Konklusion nicht zu hundert Prozent teilen: Es ist, im Rückblick auf die "Konservative Revolution" der 1920er, eben nicht plausibel, Ständestaat und Nazismus taxfrei zu Ausprägungen ein- und derselben Gesinnung zu erklären, beider Konflikte zu "Grabenkämpfen innerhalb desselben Lagers". Es reicht der Hinweis auf ein wichtiges Buch. Und darauf, wie wesensähnlich einander Trump und Kurz sind. Obwohl sie einander gar nicht aufs Haar gleichen. (Ronald Pohl, 23.9.2021)