Die "Querdenken"-Bewegung konnte zeitweise zehntausende Demonstrierende mobilisieren.

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Wahlmanipulation, geheime Deals zwischen Angela Merkel und den Grünen, Annalena Baerbock als Drahtzieherin der neuen Weltordnung: Das Internet strotzt im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl am 26. September vor Falschinformationen und Verschwörungsmythen. Spitzenkandidatinnen und -kandidaten werden zur Zielscheibe persönlicher Angriffe und Diskreditierungsversuche, mit denen das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Prozesse ins Wanken gebracht werden soll.

Möchte man herausfinden, wo diese Erzählungen und Mobilisierungsversuche im Pandemiegeschehen ihren Ursprung haben, muss man eigentlich nur eins und eins zusammenzählen. Immerhin strömten in Deutschland und Österreich aus Protest zwischenzeitlich zehntausende Menschen auf die Straße; in fester Überzeugung, das Virus sei harmlos oder gar erfunden – und eine Ausrede der Elite, sie ihrer Freiheit zu berauben.

Explosives Wachstum

Es liegt nahe, dass sich Angriffe deshalb vor allem auf Vertreter der Altparteien, also auf Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) konzentrieren.

Zu hören war die Mär vom Wahlverbot für ungeimpfte Personen, die Behauptung, Baerbock wolle die Witwenrente abschaffen, und dass Spenden für Opfer der Flutkatastrophe in Wirklichkeit in den Wahlkampf Laschets geflossen seien. Eine Untersuchung des Institute for Strategic Dialogue (ISD Germany) zeigte jedoch: Am häufigsten zielen systematische Kampagnen, getüncht mit sexistischen Vorwürfen und Verschwörungsmythen, auf die grüne Spitzenkandidatin ab. "Genderspezifische Desinformationskampagnen sind eine Bedrohung für unsere Demokratie", sagt ISD-Forscherin Helena Schwertheim, da sich Kandidatinnen infolgedessen aus digitalen Diskursen und letztlich aus demokratischen Prozessen zurückziehen könnten.

Die immer stärkere Emotionalisierung dieses faktenfeindlichen Diskurses mündete nicht zuletzt in der versuchten Stürmung des Reichtags im August 2020. Sie ließ außerdem den Onlineauftritt von Gruppierungen wie den "Querdenkern" in kürzester Zeit explodieren. Vor allem im Messenger-Dienst Telegram stachelt die Szeneprominenz bereits seit Monaten ihre Gefolgschaft gegen Regierung, Pharmabranche und sogar geimpfte Menschen auf. Etablierte Plattformen wie Facebook, Instagram und Youtube werden zu Rekrutierungsportalen.

Einflussversuche stammen primär aus dem Inland, sagt Josef Holnburger, Experte für Verschwörungsmythen bei der Denkfabrik Cemas. Doch auch ausländische Organisationen sind involviert. Das von Russland finanzierte Nachrichtenportal RT Deutsch greift regelmäßig die erfolgreichsten Desinformationen auf und vergrößert deren Reichweite erheblich.

Wo die Märchen entstehen

Corona-Maßnahmen-Gegner erkannten das Potenzial von Telegram sehr schnell. Schon am 28. April 2020 entschieden die Betreiber der "Corona-Rebellen"-Gruppe, Facebook zugunsten des russischen Messengers hinter sich liegenzulassen. Im Rahmen des Umzugs entstand unter anderem "Querdenken 711", der wahrscheinlich relevanteste Ableger der "Querdenken"-Bewegung.

"Dann ging der Telegram-Boom eigentlich erst so richtig los", sagt Holnburger. Bereits vertretene Akteure konnten ihre Reichweite massiv vergrößern. Der Kanal des rechten Verschwörungserzählers Oliver Janich wuchs zum Beispiel von 40.000 auf mittlerweile fast 160.000 Abonnenten. Klar war schnell: Erfolgreich sind vor allem jene, die das plötzliche Verlangen nach verschwörungsideologischen Inhalten zu bedienen wissen. Allein im Zeitraum zwischen Dezember 2020 und April 2021 wuchs die Leserschaft extremistischer Kanäle laut ISD-Daten um bis zu 471 Prozent.

Problematisch ist dieser rasante Zuwachs, weil Telegram nicht unter das deutsche Netzdurchsetzungsgesetz (Netz DG) fällt, mit dem Plattformbetreiber zur Löschung strafrechtlich relevanter Inhalte verpflichtet werden. Moderation ist unterdessen fast nicht existent, egal wie radikal verbreitete Meinungen auch sein mögen. Im Vergleich zu Facebook ist die Kommunikation außerdem viel direkter, fesselnder, emotionaler. Alle Mitglieder können ungefiltert ihre Meinung posten und erhalten für jede Antwort eine Push-Benachrichtigung auf ihr Handy.

Tür an Tür mit Rechtsextremisten

Erschwerend kommt hinzu, dass mit nur einem Knopfdruck Beiträge aus anderen Kanälen und Gruppen geteilt werden können. Folgt man vergleichsweise harmlosen Maßnahmenskeptikern, ist es nicht unwahrscheinlich, plötzlich rechtsextremistische Inhalte aufgetischt zu bekommen. Dass der Messenger also essenziell wichtiger Inkubator für Verschwörungsmythen rund um die kommende Bundestagswahl ist, verwundert nicht – sind diese doch eng verwoben mit derzeit offensichtlich massentauglichen Erzählungen rund um die Covid-19-Pandemie.

Am gefährlichsten ist jedoch das eingangs erwähnte Narrativ der gefälschten Wahl, sind sich die Forscher einig. Den Menschen soll nicht nur das Vertrauen in den Wahlprozess selbst genommen werden, sondern in die Demokratie und Regierung. "Man stellt indirekt in Abrede, dass es überhaupt eine Veränderung geben könnte, weil die eigene Partei nie eine Mehrheit hätte", sagt Holnburger.

Wohin das im Extremfall führen kann, zeigen die USA und der Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner. Damals trieb sogar der damalige Präsident Donald Trump den Mythos einer Wahlmanipulation vor sich her – ein relevanter Unterschied zu Deutschland. Dass es in näherer Zukunft zu einem vergleichbaren Gewaltausbruch kommt, ist also unwahrscheinlich. Das Thema ist noch nicht im Mainstream angelangt, das Vertrauen in die Medien, die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt zu groß.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Das Risiko darf dennoch nicht unterschätzt werden. Immerhin verkündet inzwischen schon die rechtsradikale Alternative für Deutschland (AfD) öffentlich Zweifel an der Legitimität der Briefwahl. In Umfragen liegt sie derzeit bei etwa zehn Prozent, was zwar eine Minderheit, aber einen relevanten Teil der wahlberechtigten Bevölkerung darstellt.

Die Auswirkungen von Desinformation und Verschwörungserzählungen müssen deshalb langfristiger betrachtet werden, erschütterten sie seit der Bundestagswahl 2017 doch schon das Vertrauen etlicher Bürger. Laut Schwertheim braucht es deshalb eine Förderung der Medienkompetenz, der politischen Bildung und vor allem mehr systematische Regulierung von Social-Media-Plattformen, mit der problematische Inhalte umfassender betrachtet werden. Nur so könne man Destabilisierungsversuche im Keim ersticken. (Mickey Manakas, 24.9.2021)