Tschechows Provinzfiguren sind endlich in der Ewigkeit angekommen: als absolut aseptische Kopien ihrer selbst.

Foto: Ostermann/Volkstheater

Eine klitzekleine Spanne Zeit trennt Tschechows "Drei Schwestern" vom Glück auf Erden. Mascha, Olga und Irina, ihrer Erziehung nach Großstädterinnen, drohen in der ungeliebten russischen Provinz zu verwelken: trotz einer Soldateska, die um sie buhlt und in der Kunst des Zeittotschlagens mit ihnen wetteifert. Von daher ist der Ausruf "Nach Moskau!" das berühmteste Sehnsuchtsmotiv der Welt. In ihm dreifach enthalten ist der Wunsch nach Tätigkeit, nach Steigerung der Lebensintensität.

Im Wiener Volkstheater haben die Schwestern Prosorow jeden Gedanken an ein besseres Morgen längst überwunden. In der Mitte einer Leinwand, auf der sich entzündungsrote Wolken ballen, steckt ein Guckkasten mit Rahmen (Bühne: Lena Newton). Videoprojektionen (von Rodrik Biersteker) strecken zusätzlich die Perspektive des innen verspiegelten Raums. Die drei Schwestern aber gleichen Figurinen mit Kopftuch und anonymen Gesichtern: als hätte kein Gott, jedoch auch kein Tschechow sie eigenhändig aus Birkenholz geschnitzt. Bei Bedarf vollführen die drei ein stummes Arm-Ballett: Bauhaus-Schwestern, triadisch, wie von Oskar Schlemmer erdacht.

Regisseurin Susanne Kennedy ist die rätselhafte Magierin des deutschsprachigen Gegenwartstheaters. Von Tschechow borgt sie sich geschätzte drei Promille Text. Den Abend selbst zerkleinert sie durch abrupte Schnitte in rund 40 statische Bilder: "Lebend" wird man diese nicht nennen wollen.

Auf der Honigspur

Jede Art von Zeitenfolge scheint in diesem Mahlwerk aufgehoben. Die Figuren kleben auf der Honigspur von Friedrich Nietzsches "ewiger Wiederkehr des Gleichen" wie Stubenfliegen fest. Sie sind, vor allem mit Blick auf die Männer, zu Avataren mutiert: Anonymi mit Gummimasken. Erörtert werden mit verstellten Stimmen aufwühlende Fragen wie die, ob schon gefrühstückt worden ist.

Diesen 2019 in München uraufgeführte und nunmehr für Wien überarbeitete Abend gleicht einem Besuch im digitalen Spiegelsaal: Häuptling Sitting Bull und Stanley Kubrick könnten ihn sich miteinander ausgedacht haben. Gutturale Stimmen brabbeln durcheinander, ein markerschütternder Soundtrack (Richard Janssen) reißt das Nervenkostüm in Fetzen. Man verfolgt gebannt englischsprachige Unterweisungen in die Aufhebung der Zeit.

Irgendwann – wir haben den Mond (?) besucht, Esoterik gelauscht, Pixel-Figuren bewundert, Greisinnen zugesehen – gibt auch der hartgesottene Tschechow-Freund klein bei. Kennedys schwindelerregendes Theater bezeichnet die "Simulation der Simulation": Es kreiselt in immer lichteren Höhen um ein letztlich leeres Zentrum. Es zeigt und beschreibt sich: in der schieren Wiederholung seiner selbst. Es ist die Fortsetzung der "Posthistoire" mit anderen Mitteln.

Kennedys Theater ist, man muss das so deutlich sagen, genial. Man möchte sich dieser sterilen Atmosphäre bloß nicht jeden Abend aussetzen. Volkstheater-Direktor Kay Voges hat Kennedy an sein Haus gebunden: eine nützliche Drohung; eine goldrichtige Entscheidung. (Ronald Pohl, 23.9.2021)