Was, wenn alles ganz anders kommt und die Umfragen gar nicht stimmen? Diese Frage ist in jedem Wahlkampf des einen Albtraum und des anderen Wunschtraum. Das ist nachvollziehbar: Denn nur sehr selten liegen die Demoskopen genau am Punkt mit ihrer Prognose.

Eine Sache ist es, darüber Auskunft zu geben, wen man wählen wird – eine andere ist es, dort dann tatsächlich das Kreuzerl zu machen.
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Besonders heikel stellt sich wenige Tage vor dem Urnengang die Lage in Deutschland dar. Im Laufe des Sommers konnte sich der sozialdemokratische Kandidat Olaf Scholz überraschend an die Spitze der Umfragen setzen – doch die bange Frage bei den Roten lautet stets: Werden die Wählerinnen und Wähler tatsächlich ihr Kreuz bei der SPD machen? Oder liegt der Fehler bei den Umfrageinstituten und deren Methoden?

Schon öfter mussten Politiker und Parteien einen niederschmetternden Wahlabend erleben, weil sich die Verheißungen nicht bewahrheitet hatten. Ein drastisches Beispiel lieferte dafür 2005 ausgerechnet die spätere Langzeitkanzlerin Angela Merkel: In Umfragen lag sie bei ihrem ersten Antreten als Kanzlerkandidatin bei durchschnittlich 41,6 Prozent. Doch es waren eben nur Umfragewerte: Das tatsächliche Wahlergebnis von "nur" 35,2 Prozent sorgte für Ernüchterung nicht nur bei CDU/CSU, sondern auch bei den Demoskopen, deren Glaubwürdigkeit litt.

Nur nicht vorpreschen!

2009 und 2013 übten sie sich dann in allergrößter Vorsicht: Kein Institut scherte aus, alle lagen knapp beieinander – fast so, als ob man sich gegenseitig beobachten und nicht nach vorn preschen wollte. Tatsächlich lagen Umfragen und Ergebnisse dann kaum mehr als zwei Prozentpunkte auseinander. Das schaffte neues Vertrauen.

2017 lagen Traum und Wirklichkeit für Merkels Union schon wieder weiter auseinander (Differenz: drei Prozentpunkte). Dafür performte die rechte AfD um einiges besser, als die Institute berechnet hatten – ein Effekt, den man hierzulande jahrelang von der FPÖ kannte: In Umfragen bekennt man sich nicht so gern zu einer Rechtspartei – in der anonymen Wahlzelle dann schon eher.

Und heuer, 2021? Das Rennen bleibt knapp – nachdem die Union im Vergleich zu Umfragewerten zu Jahresbeginn regelrecht abgestürzt ist, die Grünen nur zwischenzeitlich Höhenluft genießen konnten und die SPD ein gar wundersames Comeback geschafft hat.

Aber auch hier gilt: Das sind nur Umfragedaten aus der "Sonntagsfrage". Wahlforscher wie der Berliner Reiner Faus twittern sich seit Tagen die Finger wund und warnen vor möglichen Verzerrungen bei den Umfragen. Beachtlich erscheint Faus vor allem die geringe Bandbreite zwischen den Umfrageinstituten bei der Bewertung der SPD-Werte (zwei Prozentpunkte) im Vergleich zu jenen von CDU/CSU (sechs Prozentpunkte).

Gefährlicher "Leitwolf"

Liegen sie alle richtig und haben sie daher sehr ähnliche Daten? Oder trimmen alle Demoskopen ihre Ergebnisse so hin, dass man nicht aus der Reihe tanzt? Dieses "Herding" – also die "Tendenz, eigene Umfrageergebnisse an veröffentlichte Ergebnisse anzupassen", birgt für Faus eine große Gefahr: "Liegt der ‚Leitwolf‘ falsch, liegen alle falsch."

Tatsächlich stehen Allensbach, Emnid, Forsa, Infratest und Co vor gleich mehreren Problemen: Weder Olaf Scholz noch Armin Laschet noch Annalena Baerbock gehen als Titelverteidiger ins Rennen; das heißt, dass nach 16 Jahren Merkel auf personeller Ebene absolut alle Karten neu gemischt werden. Und erstmals gibt es nicht zwei, sondern drei Anwärter auf den Posten im Kanzleramt. Auch die Situation, inmitten der Pandemie an die Urne zu schreiten, ist neu – und niemand kann schon jetzt seriös bewerten, wie sich das auf die Wahlentscheidung auswirken wird. (Gianluca Wallisch, 24.9.2021)