Der Bildungscampus Christine Nöstlinger auf dem Nordbahnhof-Areal ging im September 2020 in Betrieb.

Foto: Hertha Hurnaus

Geplant wurde er von Klammer Zeleny Architekten.

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In einer Fensterkoje neben dem Turnsaal sitzt eine Gruppe Jugendlicher, sie trinken Red Bull und Latella und erteilen einander einen Nachhilfe-Crashkurs in Wurzelziehen und Potenzen. Auf der anderen Seite des gespannten Stahlnetzes, eine Etage tiefer, wird Fußball gespielt. "Und genau das", sagt Direktorin Gudrun Jauk, "ist eine der größten Stärken dieses Hauses. Die Schülerinnen und Schüler können sich auf dem gesamten Campus frei bewegen und ihre Lernorte nach Belieben aussuchen. So können die Großen den Kleinen beim Lernen unter die Arme greifen – ein räumliches und pädagogisches Plus, das ich nie wieder missen möchte."

Handlungsbedarf erkannt

Jauk leitet die Mittelschule auf dem Bildungscampus Christine Nöstlinger. Noch gleicht der 17.500 Quadratmeter große Campus auf dem Nordbahnhof-Areal, fertiggestellt im September 2020 nach Plänen von Klammer Zeleny Architekten, einem spärlich belebten Geisterschloss, doch in ein paar Jahren sollen hier täglich bis zu 1900 Schülerinnen und Schüler ein und aus gehen. Damit ist das PPP-Projekt (Public-private Partnership) die größte Kinder- und Jugendbildungseinrichtung Österreichs.

Die Geburtsstunde für den neuen österreichischen Schulbau liegt etwa 13, 14 Jahre zurück. "2007 und 2008 gab es etliche Konferenzen und Symposien, auf denen aus der Branche der Architektinnen und Pädagogen laute Kritik zu vernehmen war", erinnert sich Karin Schwarz-Viechtbauer, Geschäftsführerin des Österreichischen Instituts für Schul- und Sportstättenbau (ÖISS). "Die Erkenntnis war: Wir müssen dringend handeln. Aus einem gewissen Nichtwissen heraus, das wir bald erkannt haben, haben wir begonnen, Planer- und Nutzerinnengruppen ins Gespräch zu bringen. Damit hat alles begonnen."

Drei Innovationen

2014 wurde im Sonnwendviertel der erste Bildungscampus einer neuen Generation eröffnet (siehe Interview mit Georg Poduschka, PPAG Architekten). Seit damals gibt es – grob gesagt – drei Innovationen, die den österreichischen Schulbau prägen: Die wichtigste Neuerung betrifft die Zusammenlegung mehrerer Schulstufen und Schultypen. In der Regel werden Volks- und Mittelschule kombiniert – im ländlichen Raum oft mit einer berufsbildenden Schule, in Wien meist mit Kindergarten.

Zweitens sind die Klassen der Pflichtschulstufen als Cluster angelegt – mit Marktplätzen, offenen Lernzonen und flexibel zuschaltbaren Lernräumen für individuelle Projektarbeit. Im Prinzip also nichts anderes als eine kleine Dorfschule inmitten eines großen Schulverbunds. Und drittens wird in den Oberstufen die Stammklasse komplett aufgelöst. Stattdessen gibt es – wie auf der Uni – kompetenzorientierte, fachbezogene Unterrichtsräume, zwischen denen sich die Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag hin- und herbewegen.

Nicht immer geht das Konzept auf

"Ein wesentlicher Bestandteil dieser neuen Schulbaukonzepte ist die sogenannte Phase 0, in der Auftraggeber, Planerinnen und Schulpädagogen partizipativ ins Gespräch kommen und gemeinsam festlegen, was die Rahmenbedingungen für das Projekt beziehungsweise für einen etwaigen Architekturwettbewerb sind", so Schwarz-Viechtbauer. Architekten seien ganz gut trainiert, diese Kommunikationsprozesse zu führen, es gebe dafür aber auch eigens ausgebildete Spezialisten.

Michael Zinner, Professor an der Kunstuni Linz und Initiator des Forschungsprojekts Schulraumkultur, sieht die Sache etwas kritischer: "In den Volksschulstufen funktioniert das Clustersystem in der Regel sehr gut, weil sich das offene Raumangebot für den ganzheitlichen und nicht fachbezogenen Unterricht wunderbar eignet. In den höheren Schulstufen jedoch, in denen die Schülerinnen fach- und kompetenzbezogen arbeiten und in denen die Lehrenden mit den offenen Clustern oft zwangsbeglückt werden, braucht es eine wirklich gute Logistik und ein pädagogisches Wollen, damit das Clusterkonzept auch wirklich aufgeht." Das sei nicht immer der Fall.

Ungenutzte Potenziale

Wenn Architektur und pädagogisches Konzept nicht von Anfang an aufeinander abgestimmt und miteinander koordiniert sind, dann werden mitunter viele räumliche Potenziale, die in einem Schulgebäude stecken, nicht erkannt. "Und dann unterrichten die Lehrer darin wie schon die letzten Jahrzehnte in einer ganz normalen Gangschule." Legitim, aber eine Verschwendung von Steuergeld, so Zinner.

Ob und inwiefern die neuen Campus- und Clusterschulen tatsächlich teurer sind als herkömmliche Schulbauten – darüber erfährt man auch aus Fachkreisen nur wenig. Vergleiche sind schwer anzustellen, hinzu kommen diverse PPP-Konstellationen mit privaten Errichtern und Erhaltern, die die Materie wenig transparent machen. "Aus den mir bekannten Projekten jedoch kann ich schließen, dass die neuen Clusterschulen meist flächenmäßig größer sind als konventionelle Schulbauten", meint Zinner. "Das macht sie in der Errichtung auch entsprechend teurer. Allerdings gibt es enormes Potenzial für Synergieeffekte – etwa wenn sich mehrere Schultypen die Infrastruktur für Küche, Bibliothek, Turnsäle und Sonderunterrichtsräume teilen." Außerdem könne man die Belegungsdichte mancher Räume erhöhen, indem man sie außerhalb der Schulzeiten für die Gemeinde zugänglich macht. "Jedes nicht genutzte Potenzial ist ein versteckter Leerstand. Wichtig ist es daher, Schule nicht nur als Raumtabelle zu denken, sondern als Raum-Zeit-Kontinuum innerhalb einer Gemeinde zu verstehen."

Kommunikation von Phase 0 bis Phase 10

Damit das möglich ist, brauche es dringend mehr Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Nicht nur in der Phase 0, sondern im gesamten Planungs- und Bauprozess sowie in der Zeit der Besiedelung. Im Fachjargon spricht man hier von Phase 10. In Deutschland startet im Herbst das erste Phase-10-Pilotprojekt, und zwar in der Bildungslandschaft Köln Altstadt Nord. Österreich hinkt hier etwas hinterher.

"Es gibt in Europa zwar vereinzelte Bauten, Projekte und Prozesse, die vielleicht noch innovativer sind als der österreichische Schulbau", sagt Barbara Pampe, Vorständin der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft in Bonn. "Aber das Beeindruckende an Österreich – und da vor allem Wien – ist, wie hoch die Latte nicht nur bei Einzelprojekten, sondern in der breiten Masse liegt. Das ist europaweit einzigartig."

Damit Wien seine Pole-Position behält, wird der nächste Schritt sein, nach den bis zur Perfektion ausgereiften Projekten nun auch ein Augenmerk auf die Kommunikationsprozesse zu richten, auf die Zeit nach der Baustelle, auf den Dialog zwischen Architektinnen und Nutzern. Karin Schwarz-Viechtbauer: "Das fehlt dringend. Es wäre gut, das zu etablieren." (Wojciech Czaja, 26.9.2021)