Der braune Bulle mit den treuherzigen schwarzen Augen steckt seinen Kopf durch die Gitterstäbe und bedient sich am frisch gemähten, noch feuchten Grashaufen vor seiner Nase. Sarah Wiener greift in den Haufen und schubst ihn ein Stückchen näher an das hungrige Rindvieh heran, der Bulle stupst seine Nase sanft an ihren Handrücken. Seine violette Zunge schnellt hervor und leckt ihre Finger. Hält sie vielleicht etwas extra Gutes für ihn bereit? Hält sie nicht. Der Bulle wendet sich wieder dem fast frischen Gras zu.

Wiener über ihre rigorose Haltung zu gesundem Essen: "Für Manche bin ich wahrscheinlich ein kleiner Radikalinski."

Foto: Lutz Jäkel

"Seht ihr, wie er tut? So, wie er das Gras aufnimmt, hält er die Weide intakt", sagt Sarah Wiener begeistert und hebt ihre eben geleckten Hände für eine ebenso ausführliche wie gestenstarke Erklärung: Gras bekomme seinen Wachstumsschub dadurch, dass es gemäht oder, noch besser, abgefressen werde. Im Gegensatz zu Mähmaschinen haben Rinder dabei eine natürliche Programmierung für die richtige Höhe, in der Halme abgegrast zu werden wünschen: sechs bis zehn Zentimeter, knapp oberhalb des Wachstumsknotens. Rinder tun dies exakt so, wie es die Natur vorgesehen hat, da sie nicht über Zähne, sondern über Kauleisten verfügen. Damit können sie Grashalme nicht an der Wurzel abbeißen oder ausreißen. Sie schlingen ihre rauen, spitz zulaufenden Zungen um die Halme, fixieren und zermahlen sie zwischen ihren Kiefern. Das dermaßen abgesäbelte Gras auf der Weide erhält einen neuen Wachstumsimpuls. Sarah Wiener erklärt: "Eine Kuh produziert zehn Tonnen Dung pro Jahr, das versorgt zehn Kilogramm Biomasse an Insekten pro Monat, davon wiederum ernähren sich drei Störche ein Monat lang." Kreislaufwirtschaft, alles klar?

Unersetzliche Tiere

Deshalb hält Wiener hier, auf ihrem Gut Kerkow, rund 100 Kilometer nordöstlich von Berlin in der Uckermark, Rinder. Rinder, die mittels Natursprung gezeugt werden, monatelang bei ihren Muttertieren bleiben dürfen, von ihnen gesäugt werden und danach auf Weiden grasen. Eine gesunde Landwirtschaft brauche Tiere, sagt Wiener, denn es benötige diesen Kreislauf von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung – vulgo Düngung, den Austausch von natürlichen Mineralien und Nährstoffen. Sie erklärt den Kreislauf mit ihren Händen, denen man anmerkt, dass sie zupackt. Unter ihren Nägeln sieht man die Farbe von Erde oder eingekochten Beeren oder beidem.

Sarah Wiener war schon vieles in ihrem Leben. Die 59-jährige Wienerin begann im Teenager-Alter als Küchenhilfe in den Berliner Restaurants ihres berühmten Künstler-Vaters Oswald Wiener, der als theoretischer Kopf der Wiener Gruppe nach den Studentenunruhen 1968 ebenso skandalös wie einflussreich in der Kunstszene war. Von ihm und ihrer Stiefmutter lernte sie viel, "in unserer Familie wurde immer gekocht". Sie machte sich einen Namen mit Caterings für Filmcrews, wurde selbst eine bekannte Köchin im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen – vielleicht auch, weil sie, anders als ihre männlichen Kollegen, in Gemüse, Salaten und Früchten stets mehr als Sättigungsbeilagen und Dekor sah. Schon früh warb sie für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und den Tieren, die wir essen. Das brachte ihr eine kulinarische Reise-Serie auf dem Kultursender Arte ein, und Sarah Wiener wurde noch prominenter. Sie gründete eigene Restaurants und Bäckereien in Berlin, brachte eine eigene Produktreihe mit Aufstrichen und Marmeladen für den Supermarkt heraus. Alles bio hergestellt, ohne Zusätze, von ihr persönlich überwacht eingekocht und eingeweckt. Nicht alles war erfolgreich. Die Produktlinie ist mittlerweile eingestellt, ihre beiden Restaurants gingen infolge der Corona-Krise insolvent.

Deutsch-österreichische Klischees

Habe sie, die Österreicherin, die Deutschen gelehrt, was gutes Essen heißt – und sei sie am Ende dann doch nicht richtig verstanden worden? "Das sind Klischees", sagt sie, "mein Vater war der Pionier, der hat schon in den 1960er-Jahren in seinen Lokalen weiße Tischtücher aufgelegt."

Sarah Wiener ist seit 2019 EU-Abgeordnete für die österreichischen Grünen – und Bäuerin, wie sie selbst sagt. Eine "Großbäuerin", wie ihre Kritiker monieren – nicht ganz zu Unrecht, aber auch nicht ganz zu Recht. Das Gut in der Uckermark hat 900 Hektar, für österreichische Verhältnisse riesig, für deutsche "eher ein Mittelbetrieb", wie sie sagt. Wiener hat es mit einem Partner gekauft und "gerettet", sagt sie. Kerkow war ein mehr schlecht als recht funktionierender Biohof, "hätten wir nicht gekauft, wäre es wohl eine konventionelle Ackerflächenwirtschaft geworden mit Monokultur und Kunstdünger". Dass sie die Agrarindustrie scharf kritisiert, wird ihr, der Neo-Politikerin, genauso vorgeworfen wie die Tatsache, dass sie ihre Geldgeber beteiligen musste. "Wie hätten wir sonst das Geld aufgetrieben? Wir brauchten natürlich Kredite, um hier alles so umzubauen, wie wir uns das vorgestellt haben."

Wer glaubt, Wiener habe Gut Kerkow zu einem pittoresken Landidyll umbauen lassen, irrt freilich. Hier, auf Kerkow – die Brandenburger sprechen es "Kerkooo" aus – geht es eher nüchtern zu. Es gibt zwar ein herrschaftlich wirkendes Gutshaus, schöne alte Stallungen und einen Hofladen im typischen roten Ziegelbaustil Brandenburgs – doch das Gutshaus steht, bis auf ein Büro und einige weitläufige Ausstellungsräume für Künstler der Region, leer. Die lange offene Halle mit dem Wellblechdach, in der die jungen Bullen raufen, die demnächst geschlachtet werden, entbehrt ebenso jeder Romantik wie die weitläufige Betonfläche, die den inneren Hofbereich fast zur Gänze versiegelt. "Das werden wir nächstes Jahr ändern", sagt Sarah Wiener, "wir müssen alles schrittweise machen." Es gibt eine Schlachterei, eine Metzgerei und 32 Angestellte, keine Saisonarbeiter. Gut Kerkow beliefert Metzgerläden in Berlin, die Gut-eigene Bäckerei und Biomärkte. Auf der Homepage wird die einst berühmte TV-Köchin zwar erwähnt, aber sie dominiert die Seite nicht.

Der Hofladen auf Gut Kerkow, in dem nur biologische, nachhaltig produzierte Lebensmittel angeboten werden. Gleich daneben fressen die Angus-Rinder frisch gemähtes Gras – an diesem Tag im Stall, da es zuvor heftig geregnet hat, ansonsten auf den welligen Weiden der Uckermark.
Foto: Lutz Jäkel

Schwierige Umstellung

"Wir sind ein Team", sagt Wiener. Ein gutes Team muss sich abstimmen, auch wenn Wiener gerade mit dem STANDARD spricht. Die Chefin des Hofladens will mit ihr über das Gemüseregal reden; der Verwalter muss ihr kurz Bescheid geben, eine Mitarbeiterin aus der Metzgerei muss rasch begrüßt werden. Dennoch geschieht alles ohne Hast, mit "Ruhe und Respekt", wie es auf der Website heißt. Die Hühner picken im Vorgarten vor sich hin, eine Hofkatze blinzelt in die Sonne und leckt sich die Vorderpfote. Vielleicht doch ein Idyll, hier in der Uckermark, geführt in österreichischem Pomale-Stil, nicht zackig-deutsch? "Auch so ein Klischee", sagt Wiener ein bisschen streng.

Man ahnt aus ihren Erzählungen, dass die vergangenen sechs Jahre nicht einfach waren, die Umstellung auf Naturwirtschaft schwierig in den sandigen, welligen Böden der Uckermark. Als EU-Mandatarin steht sie unter ständiger Beobachtung, so manche – anfangs auch in der eigenen Partei – sahen ihre Beteiligung an einer so großen Landwirtschaft kritisch. Bei manchen Abstimmungen, etwa zur landwirtschaftlichen Förderung, solle sie in Straßburg und Brüssel nicht mitstimmen dürfen, forderte jüngst ein Mandatar einer anderen Partei. Ihre politischen Aussagen stoßen auf zum Teil harsche Kritik, manche werfen ihr Naivität, andere Scheinheiligkeit vor. "Dabei sage ich nichts anderes als damals, als ich Fernsehköchin war", lacht sie ihr Sarah-Wiener-Lachen – das mit den Grübchen. Damals bekam sie noch nicht so viele böse Mails, fügt sie ernster hinzu.

"Ein Tier nicht zu töten heißt noch nicht, gut zu Tieren zu sein."

Sarah Wiener

Foto: Lutz Jäkel

Auf Kerkow tue sie, was sie sich immer gewünscht habe: "Wir haben hier die Kontrolle über das zurückgewonnen, was wir essen", sagt sie. Wiener und ihre Partner züchten das Aberdeen-Angus-Rind, eine kurzbeinige, dunkle Rasse, die seit dem 18. Jahrhundert gezüchtet wird. In der konventionellen Landwirtschaft kreuzt man sie oft mit anderen Rassen, weil Angus-Rinder rasch zu verfetten drohen. Auf Gut Kerkow verfetten sie nicht. Sie stehen auf der Weide, fressen Gras und tollen umher – bis sie am Hof warm geschlachtet werden; oder auf der Weide, immer öfter. Das ist für die Tiere nahezu stressfrei. Auch Bullen werden auf Kerkow zu Fleisch verarbeitet. Sie habe nie akzeptiert, dass Hähne und Stiere sinnlos früh sterben müssen, weil die Agrarindustrie auf Geschlecht züchte, sagt Wiener: "Ich hatte schon vor Jahren ein T-Shirt mit der Aufschrift ,Her mit der Männerquote‘". Auf den Getreidefeldern werden alte Sorten angebaut, der Hof hat mittlerweile eine siebenjährige Fruchtfolge.

Rechnet sich das alles? Kann man mit strengem Bio-Anbau und konsequenter Kreislaufwirtschaft einen Hof wirtschaftlich führen? Und, weiter, politisch, gefasst: Kann man so die Ernährung der ganzen Welt umstellen? Wiener empfindet schon die Frage an sich falsch gestellt: "Können wir uns etwa leisten, so weiterzumachen wie bisher?", hält sie dagegen. Nicht biologisch, regional und nachhaltig hergestellte Lebensmittel seien zu teuer – sondern die Produkte der konventionellen Landwirtschaft zu billig. Würden all die wahren Kosten ehrlich berechnet, für Zusatzstoffe, chemische Prozesse, medikamentöse Behandlung von Tieren und absurde Transportwege sowie die Ausbeutung von Menschen eingerechnet – dann wäre wohl konventionell hergestelltes Essen teurer als jedes Bio-Essen, sagt Wiener. Jetzt dagegen zahlen die Gesellschaft und die Natur drauf.

Aber wie realistisch ist eine Abkehr von der konventionellen Landwirtschaft? Sarah Wiener seufzt ein wenig: "Ich bin wahrscheinlich für manche ein kleiner Radikalinski. Mein wissen verpflichtet mich zu einer klaren Haltung. Wir haben immer weniger Zeit. Je länger wir warten, desto schwieriger wird es umzukehren." Und eine Abkehr vom jetzigen System sei absolut notwendig.

Foto: Lutz Jäkel

Sie rückt ihren Stuhl vor dem Kerkower Hofladen zurecht und hält das nächste leidenschaftliche Plädoyer. Für Tomaten, die nach Tomaten schmecken – und auch unterschiedlich in ihren Sorten. Für Regenwürmer! Brokkoli, der nach Brokkoli schmeckt, und der tatsächlich reich ist an Mineralstoffen, welche die Industrie aus ihm herausgezüchtet hat. Sie schwärmt von den Brandenburger Bioschweinen, die auf Kerkow zu Würsten verarbeitet werden, die nur mit dem Saft Roter Rüben gefärbt werden.

Wiener will’s, wie einst in ihren TV-Sendungen, echt. Da scheute sie sich nicht, Würste zu verarbeiten, bei der Schlachtung von Tieren mitzuhelfen und sich die Hände schmutzig zu machen. Nicht alle Kolleginnen und Kollegen im EU-Parlament fanden ihren zupackenden Zugang zu den Dingen löblich. "Viele haben geglaubt, ich will nur spielen. Es gibt auch einen Promi-Malus", sagt sie. Mittlerweile, sagt sie, wisse man, dass sie ihr politisches Engagement ernst meine.

Irrweg Fake-Fleisch

Wiener hält neue Entwicklungen wie Fake-Fleisch, Wurst-Surrogate, Fleisch aus der Petrischale für einen gefährlichen Irrweg. "So etwas herzustellen kostet unendlich viel Energie und Ressourcen." Wenige halten die Patente, Nährlösungen sind oft aus Kälberföten gewonnen, es gibt keinen Nutzen für die Natur selbst. Im Gegenteil: "Natur soll ja überflüssig werden." Kurzum: "Ein Tier nicht zu töten heißt noch nicht, gut zu Tieren zu sein", ruft Wiener und verweist auf ihre Initiative für Mindeststandards zur Putenhaltung. Und: "Eine Kuh wird weniger Methan rülpsen, wenn sie gesundes, wesensgemäßes Futter bekommt."

Die Chefin des Hofladens bringt einen Korb mit Brotscheiben. Das Kerkower Hausbrot, Roggen pur, mit Kümmel. "Wie das die Österreicher mögen, würzig, dunkel", sagt Wiener. Man habe ihr gesagt, die Deutschen würden das keinesfalls essen, "jetzt ist es unser Bestseller." Das Brot wird im Holzofen gebacken, es sieht saftig aus, krustig, die Konsistenz ist dicht. Im Mund entfaltet sich ein intensiver, warmer, körniger Geschmack. Butter drauf, eventuell eine Scheibe Tomate von ihrem Hof – mehr brauche es nicht, ist Wiener überzeugt. "Es lohnt sich, dafür zu kämpfen, dass in Zukunft möglichst alle Menschen so etwas Gesundes und Nachhaltiges essen", sagt sie. Die Agrarindustrie mit ihrem "genialen Marketing, das den Bauern einredet, Bio gefährde sie", sei da der natürliche Gegner. Ob sie den auch in der nächsten Legislaturperiode des EU-Parlaments als Mandatarin bekämpfen wolle? Sie habe sich noch nicht entschieden, sagt Sarah Wiener. Eines nach dem anderen.

Foto: Lutz Jäkel

Als Biobäuerin wird sie auf jeden Fall weitermachen: auf Gut Kerkow in der brandenburgischen Uckermark, als Wienerin im Nordosten Deutschlands. Das passt besser zusammen, als so mancher glauben mag (Petra Stuiber, 25.09.2021)