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Wieder einmal alle Hände voll zu tun: Diese Woche besuchte Merkel noch den Vogelpark Marlow.

Foto: Picturedesk.com / dpa / Georg Wendt

Es war ein langes Projekt. Schon 2014 wurde der Journalist und Historiker Ralph Bollmann gefragt, ob er nicht eine Biografie über Angela Merkel schreiben wolle. Es drängte ihn nicht, denn aus seiner Sicht gab es nichts Neues zu berichten. Ein Jahr zuvor hatte er das Buch Die Deutsche: Angela Merkel und wir (Verlag Klett-Cotta) vorgelegt.

Doch im Februar 2015 verhandelte Merkel zunächst in Minsk die Waffenruhe für die Ukraine und flog von dort weiter nach Brüssel. Dort wartete eine weitere lange Verhandlungsnacht auf sie, um die Griechen im Euro zu halten. Insgesamt war Merkel 36 Stunden, ohne zu schlafen, in Krisengesprächen.

Danach fand Bollmann: "Sie ist doch eine Person der Weltgeschichte, über die es sich lohnt eine Biografie zu schreiben." Er machte sich an die Arbeit, sein Buch Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit (Verlag C. H. Beck) erschien diesen Sommer.

STANDARD: Ihre Biografie beginnt mit dem Satz: "Angela Merkel wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, wo sie die ersten Monate ihres Lebens verbrachte." Hat der nüchterne Stil der Kanzlerin auf Sie abgefärbt?

Ralph Bollmann: Merkels Geschichte ist für sich genommen schon wie ein Krimi – von der ostdeutschen Pfarrerstochter zur Kanzlerin von Deutschland und der mächtigsten Politikerin der Welt. Da muss man nicht noch zusätzlich dramatisieren.

STANDARD: Sie haben die bislang ausführlichste und neueste Biografie von Angela Merkel vorgelegt und erzählen dokumentarisch ihre Geschichte nach. Was hat die Politikerin Angela Merkel am stärksten geprägt?

Bollmann: Ihre DDR-Zeit sollte man in mehrerlei Hinsicht nicht unterschätzen. Sie war als Pfarrerstochter in einer Außenseiterposition. In der Schule musste sie besonders gute Leistungen bringen, um Aussicht auf ein Studium zu haben. Und sie musste schweigen können, durfte nicht alles von zu Hause erzählen. Ihre unglaubliche Geduld hat sicher auch damit zu tun, dass sie nach dem Bau der Berliner Mauer 30 Jahre lang auf Reisefreiheit warten musste.

Ralph Bollmann erwartet eine "Merkel-Nostalgie".
Foto: Daniel Pilar

STANDARD: Ohne den Zusammenbruch der DDR wäre Merkel niemals Kanzlerin geworden?

Bollmann: Ja, und durch diese Erfahrung des Systembruchs war sie auf die großen Weltkrisen nach 2008 besser vorbereitet als viele westeuropäische Politiker. Viele von ihnen hielten Demokratie, Marktwirtschaft und Kapitalismus für selbstverständlich. Prägend war für Merkel auch, dass die Überlebensfähigkeit eines politischen Systems von seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit abhängt. Das prägt auch Merkels China-Politik, da sagt sie: Abschottung bringt nichts, wir müssen uns dem offenen Wettbewerb stellen.

STANDARD: Sie galt zunächst als "Helmut Kohls Mädchen" und wurde Kanzlerin. Wie ausgeprägt war ihr Machtwille schon in jungen Jahren?

Bollmann: Ich glaube nicht, dass sie 1990 mit der Idee in die Politik gegangen ist, Kanzlerin zu werden. Aber sie hat selbst einmal gesagt, dass sie gern Grenzen austestet. Und aufgrund ihrer Erfahrung als Außenseiterin in der DDR lässt sie sich nicht gerne unterbuttern. Sie stand in ihrer langen Karriere oft vor der Alternative, aufzusteigen oder als Gescheiterte vom Platz zu gehen. Und Scheitern war für sie keine Option.

STANDARD: Welches Wort beschreibt Merkels Amtszeit am besten?

Bollmann: Sie war die Krisenkanzlerin, das ist ihre historische Leistung. Sie hat Deutschland, Europa und ein bisschen auch die Welt einigermaßen sicher durch die großen Krisen geführt: Finanzkrise, Euro, Ukraine, Brexit, Flüchtlinge, Trump-Wahl, Klima, Corona. Ohne diese Krisen hätte sie vermutlich nicht 16 Jahre regiert. Viele fragten in den ersten drei Jahren ihrer Amtszeit, wo eigentlich der Plan sei. Dann fand Merkel ihre Rolle als Krisenmanagerin und wurde damit populär.

STANDARD: Hätte man das 2005 erwarten können? Damals hat sie die Wahl, die sie letztendlich ins Amt brachte, fast verloren.

Bollmann: Das war das Urereignis ihrer Kanzlerschaft. Alle rechneten während des Wahlkampfs mit einem klaren Sieg der Union. Aber dann konnte sie sich nur ganz knapp durchsetzen. Das führte dazu, dass Merkel den wirtschaftsliberalen Teil ihres Programms erst einmal zur Seite legte. Dennoch hat sie ihre ökonomische Grundhaltung beibehalten.

STANDARD: Welche Akzente hat sie zu Beginn ihrer Amtszeit gesetzt?

Bollmann: Sie wollte bei den Verhandlungen mit der SPD über die erste große Koalition unbedingt das Familienministerium haben und besetzte es mit Ursula von der Leyen, die das Elterngeld und das Recht auf einen Kita-Platz einführte. Das war ein Paradigmenwechsel für Deutschland, wo damals weniger Frauen arbeiteten als in fast jedem anderen Land in Europa. Merkel machte das allerdings nicht nur aus einem frauenpolitischen Verständnis heraus.

STANDARD: Sondern?

Bollmann: Dabei spielten auch strategische Überlegungen eine Rolle. Es ging Merkel darum, die CDU zu modernisieren und neue Wählerschichten zu erschließen. Ansonsten tat sie sich anfangs mit der Innenpolitik schwer. Merkel verhandelte die Gesundheitsreform, an deren Details man sich heute zu Recht nicht mehr erinnert. Außenpolitisch lief es besser. Sie konnte auf EU-Ebene den Haushaltsstreit beilegen. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm rang sie dem US-Präsidenten George Bush 2007 Zugeständnisse in der Klimapolitik ab.

STANDARD: Danach kamen die Weltfinanz- und die vielen anderen Krisen. Was, glauben Sie, hat Merkel bewogen, im Jahr 2017 doch noch einmal – zum vierten Mal – anzutreten?

Bollmann: Mit letzter Sicherheit weiß man es nicht, weil sie selbst nicht darüber spricht. Eigentlich wollte sie nicht, wie sie früh gesagt hatte, als halbtotes Wrack aus der Politik aussteigen. Aber die Wahl von US-Präsident Donald Trump 2016 war ein Einschnitt. Merkels Weltbild war ursprünglich stark von den Vereinigten Staaten geprägt, stärker als bei westdeutschen Politikern, die sich eher an Frankreich orientierten. Dass die USA dem Populismus anheimfielen, war eine der größten Zäsuren in ihrem politischen Leben.

STANDARD: Was bleibt Positives von Merkel, was ist nicht gelungen?

Bollmann: Sie hat für Stabilität gesorgt. Und gezeigt, dass sich auch eine Frau 16 Jahre an der Macht halten kann. Aber sie ging innenpolitisch viele Reformen nicht an – bei Bildung, Digitalisierung, Rente oder Altenpflege. Merkel selbst würde wahrscheinlich sagen: "Wenn ich es getan hätte, wäre ich nicht 16 Jahre im Amt geblieben." Man darf auch nicht vergessen, dass die großen Krisen viel Kraft absorbierten. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise macht man nicht auch noch eine Föderalismusreform.

STANDARD: Viele glauben, dass es hinter dieser außergewöhnlichen Karriere Merkels irgendein Geheimnis geben müsse. Sehen Sie das auch so?

Ralph Bollmann: "Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit." 800 Seiten, 30,95 Euro. C.H.Beck, 2021
Cover: C.H. Beck

Bollmann: Ich halte das für ein großes Missverständnis. Der Glaube an dieses Mysterium herrscht auch eher in der politischen Blase, weil dort lange eine gewisse Vorstellung herrschte, wie ein Politiker oder eine Politikerin zu sein habe.

STANDARD: Sieht man das im Land anders?

Bollmann: In der breiten Wählerschaft haben die Leute das viel besser verstanden, dass Merkel im Großen und Ganzen einfach so ist, wie sie ist. Sie kann sich schlecht verstellen. Als sie neulich etwa im Bundestag polemische Attacken gegen den SPD-Kandidaten Olaf Scholz ritt, wirkte das sofort aufgesetzt. Was sie aber sehr gut kann, das ist, ein neutrales Gesicht zu machen, zu schweigen und scheinbar unbeteiligt dreinzuschauen.

STANDARD: Ist Merkels "Wir schaffen das" auch für Sie der zentrale Satz ihrer Kanzlerschaft?

Bollmann: Stärker fand ich einen anderen Satz aus dem Herbst 2015: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Es ging ihr dabei nicht so sehr um christliche Nächstenliebe, sondern um die innere Liberalität des Landes. Anschließend hatte sie selbst Zweifel, ob sie mit dieser Aussage nicht zu weit gegangen ist.

STANDARD: Wird Merkel Ihnen fehlen?

Bollmann: Ihre potenziellen Nachfolger stehen alle für die Fortsetzung des Mitte-Kurses. Aber die Zeiten werden nicht einfacher. Auf Merkel als Garantin der Stabilität und als Sicherheitsanker in unruhigen Zeiten werden vermutlich viele mit Nostalgie zurückblicken, in Deutschland und darüber hinaus. (Birgit Baumann, 25.9.2021)