"Schwanensee" in St. Pölten – mit gelungenem zeitgenössischen Zugriff.

Foto: Claude Carbonne

Hier ist der König ein Konzern-Boss, der in seinem Wolkenkratzer Hof hält. Sein Sohn Siegfried soll der Nachfolger werden, doch er trutzt wider den Vater. Und der weiße Schwan Odette wird zur Geisel eines faschistoid-mephistophelischen Rothbart als Inkarnation der Destruktivität.

Der aus Albanien stammende französische Starchoreograf Angelin Preljocaj (64) hat die Figuren und Schauplätze des großen Ballettklassikers "Schwanensee" in ein Szenario unserer Gegenwart übertragen. Dabei ist ihm einiges gelungen: erstens die Verklammerung der vormodernen Aristokratie mit unserer postmodernen Oligarchie und zweitens die Zusammenführung heutiger Mythen mit jenen von einst.

Mit ausgeklügelten Videoprojektionen von Boris Labbé, der auch schon Artist in Residence des Q21 in Wien war, deutet Preljocaj das ultimative Machtinstrument der Herrschenden unserer Zeit an: den Missbrauch der Errungenschaften unserer digitalen Kommunikation.

Letzte Saison Brigitte Fürle

Diese Schwanensee-Interpretation ist ein gelungener Coup des Festspielhauses St. Pölten zum Auftakt seiner 25. Spielsaison. Preljocajs "Le lac des cygnes" leitet Brigitte Fürles letzte Spielzeit ein. Im Herbst kommenden Jahres wird Bettina Masuch ihren Platz einnehmen.

Schon im Vorspiel des Stücks zeigt sich die Odette als Allegorie unvoreingenommener Offenheit. Sie ist so bezaubert von einer geisterhaften virtuellen Projektion, dass sie sich von Rothbarts Häschern überraschen und fangen lässt.

Odette wird zum Lockvogel für Siegfried. Der Boss plant nämlich gegen den Widerstand seines Sohnes den Bau einer neuen Industrieanlage. Seine Entourage feiert mit ihm, während sich draußen vor den Fenstern graue Hochhäuser türmen, die im Verlauf des Stücks zu "liquiden" Architekturmonstren mutieren. Zwischendurch wird im Kursfeuerwerk der Aktien eine grelle Party gefeiert. Die Vergeblichkeit seines Widerstandes gegen den Boss-Vater lähmt Siegfried und versetzt ihn an einen See, wo die Schwäne – Frauen als Geiseln des Patriarchats – im Bann Rothbarts ausharren.

Psychopolitik

Dessen Trick funktioniert. Siegfried und Odette verlieben sich, Rothbart schließt mit dem Boss einen Vertrag ab und bringt seine entscheidende Waffe zum Einsatz: Siegfried muss dazu gebracht werden, sich selbst gegen seinen Widerstand entscheiden. Das gelingt durch eine relativ simple Strategie, für den es in der zeitgenössischen Philosophie die Bezeichnung "Psychopolitik" gibt: manipulative Täuschung durch einen Köder.

Siegfried fällt auf Odile, Rothbarts bösen Klon der Odette, herein. Als er seinen Irrtum erkennt, ist es zu spät. In einer gespenstischen, von Labbé im Hintergrund-Video grandios gestalteten Szene wird das Projekt des Bosses umgesetzt. Keine Chance. Alle Schwäne einschließlich Odette sterben. Da flüchtet sich Siegfried zu seiner Mutter, doch Erlösung findet er bei ihr nicht.

Tanz und Video

In diesem Ballett funktioniert das Zusammenspiel von Tanz und Videoprojektion so perfekt wie selten auf einer Bühne. Besonders in dem Moment, der das Desaster als unumkehrbar zeigt: Da tanzen die weißen Schwäne im geisterhaft virtuellen Licht eines bleichen Mondes. Dieser verwandelt sich mit einem Schlag in ein schwarzes Loch, das in den See stürzt und als dunkle Wolke alles vergiftet.

Zu den wenigen witzigen Momenten, mit denen Angelin Preljocaj seinen dystopischen Realismus auflockert, zählt der berühmte Tanz der vier kleinen Schwäne, in den der Choreograf einen sexy Hüftschwung eingebaut hat.

Das kann auch als Kommentar zu einer großen Täuschung verstanden werden, der die postmoderne Kultur erlegen ist – dass die Subversion der Ironie allein schon ausreicht, um die Macht der Zerstörer zu zersetzen. Eine kurzsichtige Annahme. Denn längst gehört die Selbstironie als auflockerndes und verunsicherndes Element zu deren Propaganda. (Helmut Ploebst, 26.9.2021)