Der 30-jährige Vizepremier Atanas Pekanow hat für sein Amt die Arbeit beim Wirtschaftsforschungsinstitut in Wien ausgesetzt. In Bulgarien plädiert er für mehr Investitionen in den Gesundheits- und Sozialbereich.

Foto: Kristina Kamburova

"Es ist schon zur Alltagsroutine geworden", scherzt die 20-jährige Irina. Für die allermeisten Bulgaren ist es heuer schon die dritte Parlamentswahl, wenn sie am 14. November wählen gehen. Für den gerade 18 Jahre alt gewordenen Georgi, der mit seinen Freunden auf der Lehne einer Parkbank sitzt, ist es das erste Mal. "Aber wer weiß, vielleicht müssen wir ja gleich wieder wählen gehen." Georgis Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn die Bulgaren haben bereits am 4. April und am 11. Juli ein neues Parlament gewählt. Doch die Parteien waren danach nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden.

Das liegt einerseits daran, dass keiner mit der bisher regierenden konservativen Gerb koalieren will, und daran, dass die neugegründete Partei "Es gibt ein solches Volk", die über keinerlei politische Erfahrung verfügt, alle Optionen für eine Parlamentszusammenarbeit zunichtemachte. Es wird erwartet, dass die Wahlbeteiligung nun aus Enttäuschung und Protest noch niedriger sein wird als zuletzt, als sie bei 40 Prozent lag. Gleichzeitig mit der Parlamentswahl wird diesmal aber auch die Präsidentschaftswahl abgehalten.

Übergangsregierung

Präsident Rumen Radew hat gerade erst wieder eine Übergangsregierung installiert, darunter viele Experten, die nun die Geschäfte führen. Einer von ihnen ist der 30-jährige Vizepremier Atanas Pekanow, der für die Regierungsarbeit in Sofia seine Arbeit beim Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) in Wien ausgesetzt hat. Pekanow ist einer von vielen jungen Bulgaren, die in Wien studieren. "Aus meinem Schuljahrgang sind 30 Leute nach Wien gegangen", erzählt er. Wien sei für viele Bulgaren ein zentraler Ort, weil man dort Chancen bekomme, die man in Bulgarien nicht habe.

Die Abwanderung der Gebildeten und Reformorientierten ist für das Land selbst schlecht – das weiß auch Pekanow. Nun will er seiner Heimat zumindest in der Übergangszeit zur Seite stehen. Schon in den vergangenen Jahren war er als Berater für Staatschef Radew tätig, der den Vertretern der Linken nahesteht. Und auch Pekanow selbst ist die Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit ein großes Anliegen. In den vergangenen Monaten hat er an jenem Verteilungs- und Investitionsplan gearbeitet, der nach Brüssel geschickt werden muss, damit danach die versprochenen 6,3 Milliarden Euro an Wiederaufbauhilfe nach der Pandemie ins Land fließen.

Detaillierte Schritte

Doch nun fordert die EU, dass Bulgarien detaillierte Schritte dazu vorlegt, wie es die Kohlekraftwerke im Land stilllegen will. Fast 40 Prozent der Elektrizität werden derzeit noch aus Kohle gewonnen, was zu enormen Umweltschäden führt. "Viele sind sehr skeptisch, wenn es etwa um den Kohleausstieg geht", erzählt Pekanow. "Diese Leute glauben nicht, dass es Investitionen geben wird, die die Jobs im Kohlesektor ersetzen."

Er selbst sei überrascht gewesen, dass die EU-Kommission jetzt klare Fristen fordert. "Die Frage ist, ob man in wenigen Wochen entscheiden kann, wie sich die Kohleregion rund um Stara Sagora in den kommenden 15 Jahren entwickeln soll. Unser Wunsch ist es aber, dass wir den Plan vor den Wahlen einreichen. Alles hängt von den Verhandlungen zwischen unserem Energieministerium und der EU-Kommission ab."

Mehr für Bildung und Gesundheit

Inhaltlich war es für Pekanow eine Priorität, im Nationalplan mehr in Bildung, Gesundheit und in den Sozialbereich zu investieren. So wird nun der Sozialhilfesatz an die Inflation angeglichen und erhöht. "Das war seit zehn Jahren nicht der mehr der Fall, und deshalb haben die Leute immer weniger Geld bekommen", so der Ökonom zum STANDARD.

"Löhne, Steuern und Umverteilung sind hier sehr gering. Das wurde bisher als einziger Weg angesehen, um wettbewerbsfähig zu werden. Ich habe diese Einschätzung nie geteilt. Und viele Bulgaren sehen das auch nicht mehr als Modell. Sie fühlen sich dadurch nämlich vielen Risiken ausgesetzt. Das hat auch die Auswanderung befördert."

Zu wenige Vorschläge

Die 6,3 Milliarden Euro sollen nun jedenfalls auch in Digitalisierung und in den Gesundheitssektor fließen. "Für uns ist neuere Technologie in den Spitälern wichtig, etwa für die Behandlung von Herzinfarkten und Schlaganfällen", so Pekanow. Vor allem die enormen regionalen Unterschiede sollen ein wenig ausgeglichen werden. Während sich der Großraum Sofia gut entwickelt, sind die fünf Regionen jenseits der Hauptstadt die ärmsten innerhalb der EU. Als Vizepremier hat Pekanow auch die Erfahrung gemacht, dass es in den Ministerien an Expertise fehlt. Es kämen einfach zu wenige Vorschläge, wie das Geld eingesetzt werden soll, erzählt er. Deshalb brauche es in den Verwaltungen mehr junge Experten.

Obwohl Pekanow aus einem Land kommt, in dem die Rechtsstaatlichkeit sehr wenig verankert ist, oder vielleicht gerade deshalb, ist er dafür, "dass man die EU-Mittel viel stärker mit effizienter Rechtsstaatlichkeit verbindet". Die Kriterien sollten streng sein. In den vergangenen Jahren hat vor allem die zwielichtige Rolle des mächtigen Generalstaatsanwalts Iwan Geschew, der den bisher Regierenden nahestand, für Proteste gesorgt. Geschew gilt als Symbol für eine Justiz, die von Privatinteressen unterlaufen ist. Die Übergangsregierung hat deshalb auch in den Nationalplan eingefügt, dass andere Staatsanwaltschaften die Generalstaatsanwaltschaft nun überprüfen können.

Richtiger Weg

Insgesamt lobt der Wissenschafter den Wiederaufbauplan der EU. "Das ist das Ergebnis von Diskussionen vieler Makroökonomen, die immer gesagt haben, dass die EU so ein Instrument braucht, um sich von einer Krise zu erholen und Prioritäten wie Digitalisierung oder den Green Deal umzusetzen. Ich glaube, diesmal haben wir im Gegensatz zur letzten Finanzkrise den richtigen Weg eingeschlagen." Bulgarien erhält prozentuell gesehen nach Kroatien den höchsten Anteil an den Finanzmitteln. Entscheidend war, wie stark eine Volkswirtschaft getroffen wurde und wie klein das Land ist.

Im Jahr 2024 will der Staat mit sieben Millionen Einwohnern dem Euroraum beitreten können. Pekanow verweist darauf, dass sich Pensionisten und andere Risikogruppen vor einem eklatanten Preisanstieg fürchten, und fordert deshalb, dass man mit Bedacht vorgeht. "Die baltischen Länder haben das gut gemacht, dort gab es keine große Inflation", erwähnt er ein gutes Beispiel für den Eurobeitritt. Es gehe auch darum, dass man die Bürger gut informiere und keine leeren Versprechungen mache. "Es ist ja nicht so, dass wir dann auf einmal wie Deutschland oder Österreich sein werden."

Konservative Geldpolitik

Pekanow versteht die Sorgen in Deutschland, Österreich und den Niederlanden, wenn es um neue Euromitglieder geht. Er verweist aber darauf, dass die Kontrollen in der Eurozone nun viel besser seien als noch vor 20 Jahren und Bulgarien eine sehr konservative Geld- und Schuldenpolitik betreibe: "Wir sind sogar jetzt in der Krise sehr vorsichtig. In Westeuropa ist viel mehr Geld ausgegeben worden, deswegen sind dort auch die Pandemiemaßnahmen leichter angenommen worden. Hier jedoch gab es viel Unmut, weil die Leute, die in Kurzarbeit gingen, nicht so viele Kompensationen bekommen haben."

Die Angst vor einschneidenden Veränderungen ist in Bulgarien groß, weil die Armut extrem ist. "Das Medianeinkommen liegt noch immer unter 500 Euro. Die Mindestlöhne sind bei 200 oder 300 Euro. Deshalb können wir nur ambitioniert sein, wenn auch diese Leute mit dabei sind", so Pekanow. Der junge Wirtschaftswissenschafter, der auch schon in Frankfurt gearbeitet hat, weist darauf hin, dass es eine kritische Masse braucht, um echte Veränderungen zu erreichen. Entscheidend sei deshalb, ob die Bulgaren im November ausreichend reformorientierte Kräfte wählen: "Es ist die Frage, ob es diese kritische Masse gibt." (Adelheid Wölfl aus Sofia, 28.9.2021)