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Die Technologie der Optogenetik erlaubt es, die Aktivität von Neuronen mit Licht gezielt zu steuern.

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STANDARD: Warum ist Schlaf aus neurowissenschaftlicher Sicht wichtig?

Gero Miesenböck: Schlaf ist das einzige Verhalten, dessen Funktion wir nicht verstehen. Ein berühmter Schlafforscher hat gesagt: Wenn Schlaf nicht einen vitalen Zweck erfüllte, wäre er der größte Fehler der Evolution. Denn man ist unproduktiv und wehrlos. Also müssen positive Aspekte diese Nachteile aufwiegen. Wir wissen, dass Schlaf essenziell für kognitive Funktionen, Lebensspanne und Alterungsprozesse ist. Aber warum das so ist, verstehen wir nicht.

STANDARD: Warum konnte man das bisher nicht herausfinden?

Gero Miesenböck forscht in Oxford.
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Miesenböck: Wir kennen zwei Mechanismen im Gehirn, die den Schlaf kontrollieren. Der eine ist die circadiane Uhr, unser biologischer Rhythmus, und der andere der Schlaf-Homöostat: eine Art Thermostat, der anstatt der Temperatur das Schlafbedürfnis misst und, anstatt die Heizung einzuschalten, den Schlafdruck erhöht. Bisher war das große Augenmerk des Feldes auf der circadianen Uhr. Wir aber glauben, dass der Schlüssel zur Lösung des Rätsels Schlaf in der Homöostase liegen wird: Sie reagiert nicht auf externe Reize wie die Uhr, sondern lauscht nach innen.

STANDARD: Ihr Team hat sogenannte Einschlafzellen in Fliegen entdeckt. Wie funktionieren sie?

Miesenböck: Einschlafzellen sind eine kleine Gruppe von Neuronen im Gehirn der Fliege, die Schlafdruck in Schlaf umsetzen. Aktiviert man diese Zellen künstlich, schläft die Fliege in wenigen Sekunden ein. Das ist dank der Optogenetik möglich, deren Entdeckung vor 20 Jahren eine Revolution in den Neurowissenschaften ausgelöst hat. Wir haben später auch Aufwachzellen gefunden, deren Aktivierung das Gegenteil bewirkt.

STANDARD: Inwiefern hat das mit der essenziellen Funktion von Schlaf zu tun?

Miesenböck: Die Einschlafzellen sind ein Spiegel der Schlafgeschichte des Individuums. Ihre elektrische Aktivität hängt vom Schlafdruck ab. Wir haben uns gefragt, welche molekularen Mechanismen dem zugrunde liegen, und zwei Ionenkanäle im Gehirn (Proteinkomplexe in der Zellmembran, Anm.) gefunden: Shaker und Sandman. Fliegen, deren Einschlafzellen Sandman fehlt, schlafen mehr als 23 Stunden am Tag, denn ihre Einschlafzellen sind ständig elektrisch aktiv. Fliegen, denen der Shaker-Ionenkanal fehlt, sind hingegen schlaflos und ihre Zellen elektrisch abnormal ruhig. Wir haben gefunden, dass eine Untereinheit dieses Kanals Sauerstoffradikale (schädliche Nebenprodukte des Stoffwechsels, Anm.) im Gehirn misst. Staut sich dieser oxidative Stress an, wird Schlaf ausgelöst. Wir glauben deshalb, dass Schlaf auf gewisse Weise ein Antioxidans ist.

STANDARD: Was ergeben sich daraus für Folgefragen?

Miesenböck: Man weiß aus vielen Studien, dass chronischer Schlafmangel mit verschiedensten degenerativen Erkrankungen – von Insulinresistenz bis zu Parkinson – einhergeht und die Lebenserwartung verkürzt. Ähnliche Zusammenhänge sind auch für oxidativen Stress belegt. Es könnte sich daher um zwei Seiten einer Medaille handeln. Der entdeckte Mechanismus eröffnet so auch vielversprechende therapeutische Ansatzpunkte. Dafür müssen wir jedoch zunächst zeigen, dass er in ähnlicher Form auch bei Wirbeltieren vorhanden ist.

STANDARD: Gibt es Einschlafzellen auch in Menschen?

Miesenböck: Es gibt bei Säugern Zellen, die eine ähnliche schlafinduzierende Funktion ausüben und im ventralen Hypothalamus liegen. Auch molekular ähneln sie den Einschlafzellen der Fliege. Wir wissen, dass auch die Säugerzellen während des Schlafs elektrisch aktiv sind und ihre Zerstörung zu einer unheilbaren Schlafstörung führt. Man nimmt auch an, dass manche Narkosemittel diese Zellen aktivieren.

STANDARD: Als Sie vor zwanzig Jahren mit Methoden der Optogenetik gestartet haben, forschten Sie unter anderem auch an sogenannten Kritikerzellen. Wie sind Sie zum Schlaf gekommen?

Miesenböck: Kritikerzellen führen zu Veränderungen des Verhaltens, indem sie dem "Akteur" signalisieren, dass seine Handlungen unerwartet erfreuliche oder unerwünschte Konsequenzen hatten. Dann wird der Kritiker im Gehirn laut und sagt durch den Transmitter Dopamin: Du musst dein Verhalten anpassen. Auch Aufwachzellen produzieren Dopamin. Wir glauben, dass das kein bloßer Zufall ist. Um zu lernen, muss man wach und aufmerksam sein.

STANDARD: Welche Fragen wird uns die Schlafforschung in Zukunft noch beantworten?

Miesenböck: Das Wichtigste ist weiterhin, die biologische Funktion zu klären. Wir wissen nicht, ob die antioxidative Wirkung die einzige ist. Es gibt auch eine drückende Beweislast, dass Schlaf wesentlich für eine Vielzahl von kognitiven Prozessen ist. Ob auch diese Funktionen direkt mit dem antioxidativen Mechanismus zusammenhängen, weiß man nicht. Ich denke – und das ist reine Spekulation –, dass der Energiestoffwechsel dem Gehirn längere Ruheperioden aufgezwungen hat, die die Evolution dann für andere Dinge zu nützen gelernt hat: etwa dafür, neue Informationen zu verarbeiten und zu speichern. Das macht das Thema so attraktiv: Die Forschung führt uns immer wieder in völlig unerwartete Gebiete.

STANDARD: Eine persönliche Frage: Was tun Sie, wenn Sie nicht einschlafen können?

Miesenböck: Der schwerste Fehler ist, sich über Schlaflosigkeit zu ärgern. Ich schalte am liebsten das Licht ein und lese, bis mir die Augen wieder zufallen. Das Problem ist nur, dass diese Lösung meiner Frau nicht gefällt. (Katharina Kropshofer, 29.9.2021)