Bild nicht mehr verfügbar.

Lange Schlangen vor Berliner Wahllokalen.

Foto: AP Photo/Michael Probst

Timm Beichelt hat in seinem Leben als professioneller Politikbeobachter schon einiges gesehen. Der Professor für Europäische Politik an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder hat schon als Wahlbeobachter in Ländern wie Russland, der Ukraine oder Moldau der OSZE über mannigfaltige Irregularitäten Bericht erstattet. Dass nun ausgerechnet in der Hauptstadt seines Heimatlandes "in Teilen irregulär gewählt" wurde, hält der Wissenschafter im Gespräch mit dem STANDARD für "höchst blamabel".

In Berlin wurden am Sonntag nicht nur der neue Bundestag, sondern auch das Landesparlament sowie die Bezirksvertretungen neu gewählt – und das alles andere als reibungslos. So mehren sich die Berichte über fehlende Stimmzettel in manchen Wahlbüros, Bilder von langen Schlangen vor den Schulen, Bezirksämtern und anderen Wahllokalen kursierten schon während des Wahltags im Internet. Zum Teil, so wird berichtet, gaben Menschen mancherorts ihre Stimme erst nach 20 Uhr ab, obwohl eigentlich schon zwei Stunden zuvor Wahlschluss war – und die Wählerinnen und Wähler, so der Vorwurf, da längst schon im Internet die Prognosen über den Wahlausgang hätten erfahren können. Auch wenn von Gesetzes wegen niemand heimgeschickt werden darf, der zum Zeitpunkt des Wahlschlusses noch in der Schlange vor der Urne steht, sei eine neutrale Stimmabgabe vielerorts nicht mehr garantiert gewesen, findet der Politologe Beichelt.

Unklar, welche Lokale betroffen sind

Aus bis zu 120 der insgesamt 2.257 Berliner Wahllokale wurden bis dato Probleme gemeldet, welche genau betroffen sind, ist indes nicht restlos geklärt. Bisher heißt es von der Landeswahlleitung lediglich, dass vor allem aus den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf im Westen sowie Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg im Osten Berlins Beschwerden eingelangt seien. Viele davon, so ein Sprecher gegenüber dem Sender RBB, betreffen die gleichen Wahllokale. "Sollten alle Wahlbezirke, an denen es zu Problemen kam, in einem Wahlkreis konzentriert sein, könnte es durchaus zu einer Anfechtung der Wahl kommen", sagt Beichelt.

Und diese, fügt er an, könnte in diesem Fall dann auch durchaus erfolgreich sein. Allerdings, so schränkt er ein, hätte dies auf die Bundestagswahl nur dann eine Auswirkung, wenn die Unregelmäßigkeiten so geballt waren und belegt werden kann, dass sich daraus eine Verschiebung der Direktmandate in der Hauptstadt ergeben könnte. Dies sei im Moment aber aufgrund der Größe der vermutlich betroffenen Wahlbezirke nicht wahrscheinlich.

Für den Staatsrechtler Christian Pestalozza liegt der Hund vor allem im späten Zeitpunkt begraben, an denen Berlinerinnen und Berliner am Sonntag noch ihre Stimmzetteln in die Urnen werfen durften. Letztendlich, so sagte er der Berliner Zeitung, müsste für eine Anfechtung nachgewiesen werden, dass Menschen durch die bekanntgewordenen Prognosen um 18 Uhr in ihrer Entscheidung beeinflusst wurden. Sollte dies tatsächlich gelingen, bräuchte es laut Verfassungsgericht aber auch noch einen Beweis dafür, dass durch die Probleme die Sitzverteilung verändert wurde. Die Chancen auf eine erfolgreiche Anfechtung der Berliner Wahl hält er – ebenso wie die meisten anderen Fachleute – für äußerst gering.

Verantwortung wird abgeschoben

Berlins Landeswahlleiterin Petra Michaelis, die an oberster Stelle für den reibungslosen Ablauf der Wahl verantwortlich ist, räumte zwar Probleme in manchen Wahllokalen ein, schloss ihren Rücktritt aber aus. Nicht sie selbst, sondern einige Bezirkswahlleitungen seien schlecht auf den Superwahlsonntag vorbereitet gewesen. Auf jeden Fall, so Michaelis, müssten die "vermeintlichen Probleme" nun einer "Bestandsaufnahme" unterzogen werden. Fest stehe aber, dass es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wahlbehörden schon aufgrund des gleichzeitig stattfindenden Berlin-Marathons und der Pandemie nicht leicht hatten. Während der Bundeswahlleiter von seiner Berliner Filiale nun einen "detaillierten Bericht" verlangt, will sich die SPD-Wahlsiegerin Franziska Giffey dafür einsetzen, dass künftig nicht mehr am Tag des Berlin-Marathons gewählt wird. Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, die ebenfalls Zugewinne verbuchen konnte, hofft auf "komplette Aufklärung". (Florian Niederndorfer aus Berlin, 28.9.2021)