Der Katastrophe am Bahnhof ins Auge blicken: Gottfried Neuner, Sofia Falzberger, Sören Kneidl, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf und Tobias Voigt in "100 Songs" im Hamakom.

Foto: Marcel Köhler

Katastrophen passieren, wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Aber die Kunst kann. Roland Schimmelpfennigs Stück 100 Songs hält vier Minuten vor einem Terroranschlag um 8.55 Uhr auf einem großen europäischen Bahnhof (Madrid 2004 war der Ausgangspunkt) die Zeiger an und zerdehnt die wenigen Augenblicke im Leben vieler am Unglücksort versammelter Menschen. Sie werden in Kürze sterben, aber jetzt haben sie noch Zeit und Raum.

100 Songs ist kein Konzertabend. Aber Schimmelpfennig teasert eine Playlist an, um im einigermaßen dichten Wechsel verschiedene Stimmungen abzubilden, von Brahms bis Iggy Pop, von Highway to Hell über Road to Nowhere bis zum Pippi-Langstrumpf-Song. Wo es nicht viel zu deuten und sagen gibt, bedarf es der Musik. Das sechsköpfige Ensemble im Hamakom-Theater, wo am Montag die österreichische Erstaufführung über die Bühne ging, vermag die Gefühlstemperaturen dieser Musik mittels Nichtsingen bemerkenswert herzustellen. Manchmal bricht sich so ein Lied aber doch singend Bahn, um aber bald wieder im Zeitloch dieses Unglücks zu verschwinden und den nachhallenden Gedanken Platz zu machen.

Um 8.55 Uhr wird der Mann mit der Sporttasche dastehen. Es wird alles in die Luft fliegen, die Kellnerin Sally wird eine Tasse fallen lassen, der dicke Mann am Fenster sich eine Zigarette anzünden, ein Pfarrer zur Beerdigung eines Kindes fahren und seinen Glauben verlieren, zwei Brüder sich wie immer wortlos treffen und die Stripperin aus Uppsala bekennen, dass sie an Gott glaubt.

Nordische Mythologie

100 Songs entstand im Auftrag des schwedischen Länsteaters Örebro (Schimmelpfennig ist weltweit ein begehrter Stückeschreiber), und da dürfen Referenzen an die nordische Mythologie nicht fehlen. So denkt der dicke Mann am Fenster etwa plötzlich an Sleipnir, das achtbeinige Pferd des Gottes Odin aus der Edda, eine Figur mit Verbindung zum Totenreich. In Ingrid Langs überaus stimmiger Regie tritt es einmal kurz in Erscheinung.

Die Inszenierung tastet sich gekonnt über performative Gesten, sprachliche Schleifen, Modulationen und auf der Geräuschebene (Trillerpfeife, Entflammen eines Zündholzes etc.) an den Moment der Explosion heran. Dabei wird das Herunterfallen von Sallys Porzellanhäferl wiederholt zum akustischen Menetekel der Katastrophe. Im Radio läuft Kim Carnes' Bette Davis Eyes, auch dieses Radioallerweltslied fungiert als absurde melodische Imprägnierung des Unheils.

Dicke Landkarte

Die episodisch versammelten Figuren nehmen in der konzentrierten Performance zunehmend Kontur an: ihre geheimen und nicht geheimen Gedanken und Sehnsüchte, ihr soeben am Morgen beim Aufstehen Erlebtes, ihre Zukunftspläne – auch wenn es nur eine Urlaubsreise mit dicker Landkarte war.

Wie einen Terroranschlag ins Bild setzen und seine Tragik erfassen? Langs Inszenierung und das Ensemble haben darauf eine überzeugende Antwort gefunden. (Margarete Affenzeller, 29.9.2021)