Gerichtssprecherin Frederike Milhoffer gibt bekannt, dass die Angeklagte verschwunden ist.

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Das Tor des deutschen Konzentrationslagers Stutthof (heute Sztutowo, Polen)

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Itzehoe – Die 96-jährige Irmgard F., die sich am Donnerstag vor der Jugendkammer des Landgerichts im norddeutschen Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen verantworten sollte, hat einen Fluchtversuch unternommen. Sie fuhr am Donnerstagmorgen mit dem Taxi vom Altenheim in Quickborn zu einer U-Bahn-Station in Norderstedt am Hamburger Stadtrand, dort verlor sich vorerst ihre Spur.

Am frühen Nachmittag gelang es der Polizei dann, sie festzunehmen und dem Gericht vorzuführen. Nach Informationen von bild.de war sie am Mittag zu Fuß auf der Langenhorner Straße in Hamburg unterwegs, als Polizisten auf sie aufmerksam wurden.

Arzt prüft Hafttauglichkeit

Die Angeklagte sollte im Tagesverlauf der Strafkammer vorgeführt werden, ein Arzt soll ihre Hafttauglichkeit prüfen. Danach wollte die Kammer entscheiden, ob die Haft vollstreckt oder die 96-Jährige verschont wird.

Im Verhandlungssaal in der eigens angemieteten Lagerhalle des China Industrial Center warteten mehr als 50 Journalisten und Zuschauer, zwölf Vertreter der 30 Nebenkläger, der Verteidiger und weitere Prozessbeteiligte auf die Verlesung der Anklage. Der Prozess wurde wegen Abwesenheit der Angeklagten auf 19. Oktober vertagt. F. muss sich vor einem Jugendgericht verantworten, weil sie zum Tatzeitpunkt 18 bis 19 Jahre alt war.

"Gegen eine ausgebliebene Angeklagte findet die Hauptverhandlung bekanntlich nicht statt", sagte der Vorsitzende Richter Dominik Groß. Das Gericht gehe selbstverständlich davon aus, dass die Angeklagte beim nächsten Termin dabei sei. "Irgendwie werden wir das schon hinkriegen."

11.430 Morde

Der Angeklagten wird Beihilfe zum Mord in über 11.430 Fällen vorgeworfen. Als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig, das heute in Polen liegt, soll sie zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Gefangenen Hilfe geleistet haben.

KZ-Kommandant Paul-Werner Hoppe, in dessen Auftrag die Angeklagte Listen zu Deportierender tippte, gelang 1949 die Flucht in die Schweiz. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er 1953 verhaftet und zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, kam aber nach drei Jahren frei.

"Pflichtbewusster Vorgesetzter" Hoppe

Irmgard F. wurde bereits dreimal in NS-Prozessen als Zeugin einvernommen, zuletzt 1982. Im Verfahren gegen Hoppe erklärte sie, der Lagerkommandant sei ein "pflichtbewusster Vorgesetzter" gewesen, an der Rechtmäßigkeit der von ihm verhängten Todesurteile habe sie nie gezweifelt. Angeklagt wurde die Bürokraft damals nicht.

Ihre damaligen Aussagen können nur gegen sie verwendet werden, wenn sie dem zustimmt. Sie hatte in einem Brief an das Gericht erklärt, nicht an der Verhandlung teilnehmen zu wollen, weil ihr Gesundheitszustand schlecht sei und sie befürchte, verspottet zu werden.

Bereits im Februar 2017 durchsuchte die Polizei die Wohnung der heute Angeklagten und erklärte ihr den Tatvorwurf, dann dauerte es aber bis Jänner 2021, bis die Anklage fertiggestellt war.

Schutzimpfung fehlt

Der "Süddeutschen Zeitung" ("SZ") gelang es kurz vor der Corona-Pandemie, Irmgard F. in ihrer Seniorenresidenz anzutreffen. Damals erklärte sie, von den Ereignissen im Lager erst nach dem Krieg erfahren zu haben, obwohl ihr Arbeitsplatz in der Nähe des Haupteingangs lag.

Laut amtsärztlichem Gutachten ist Irmgard F. trotz ihrer Herzerkrankung verhandlungsfähig, auch geistig ist sie Fit. Probleme bereitet laut "SZ" allerdings, dass sie nicht gegen Corona geimpft ist.

Neue Rechtsauffassung

Bis 2011 galten Wachpersonal und Schreibkräfte als unbedeutender Teil der NS-Tötungsmaschinerie. 2011 wurde dann der Ukrainer John Demjanjuk vom Landgericht München II zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt, obwohl es keine Beweise für konkrete Taten Demjanjuks gab. Das Gericht sah ihn als "Teil der Vernichtungsmaschinerie" und verurteilte ihn wegen Beihilfe zum Mord an rund 28.000 Menschen.

In Haft musste Demjanjuk nicht, denn er starb zehn Monate nach der Urteilsverkündung – noch bevor über die von ihm selbst und der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision entschieden wurde.

2015 wurde Oskar Gröning, 93, einst Buchhalter in Auschwitz, zu vier Jahren Haft verurteilt. Er starb 2018, bevor er seine Strafe antreten konnte.

Der ehemalige SS-Mann Bruno D., 91, erhielt 2019 wegen Beihilfe zum Mord in 5.232 Fällen und eines versuchten Mordes im Konzentrationslager Stutthof eine Jugendstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt auf Bewährung.

65.000 Tote

Im Konzentrationslager Stutthof und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen zu Kriegsende starben nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg rund 65.000 Menschen.

In das Lager von Stutthof waren unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkriegs polnische Zivilisten interniert worden. Ab 1942 folgten nach Angaben des Museums Stutthof Transporte aus den übrigen von Deutschland besetzten Gebieten. Im Juni 1944 wurde Stutthof Teil der sogenannten "Endlösung". Die SS brachte nach Angaben der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem vor allem jüdische Frauen aus den Arbeitslagern im Baltikum und aus Auschwitz nach Stutthof. Die Haftbedingungen seien beinahe so schlimm wie in einem Vernichtungslager gewesen. Die Gefangenen starben an Krankheiten und Misshandlungen, aber auch durch Erschießen, Erhängen, Vergasen und tödliche Phenolspritzen ins Herz.(red, APA, 30.9.2021)