100.000 Fernfahrerinnen und Fernfahrer fehlen derzeit in Großbritannien. Das sorgt für Schlangen vor Tankstellen und Panikkäufe – und führt zu politischen Verrenkungen, die der Politikwissenschafter Jakob A. Lundwall im Gastkommentar beschreibt.

An Benzin zu kommen, das war dieser Tage gar nicht so einfach. So manche Britin machte sich mit dem Benzinkanister auf zur Tankstelle.
Foto: AFP / Tolga Akmen

Am 10. Oktober 1980 verkündete die damalige Premierministerin Margaret Thatcher auf dem Parteitag der Konservativen jenen Satz, der zum zentralen Credo ihrer Partei werden sollte: "The Lady’s not for turning", sagte sie in Anspielung auf Zurufe, eine 180-Grad-Wendung in ihrer Wirtschaftspolitik zu vollziehen. Das Selbstverständnis der Tories fußte seit jeher auf diesem Bonmot, nicht für Kehrtwenden zu haben zu sein. Heute, gut 40 Jahre später, scheint diese Unumstößlichkeit verfestigter und zugleich angreifbarer denn je.

Ein chronischer Mangel an Fahrerinnen und Fahrern im Lkw-Sektor, leere Supermarktregale und lange Autoschlangen vor Tankstellen haben einen gemeinsamen Nenner: den Brexit und dessen neue Hürden im Zwischenspiel mit der EU. Eines der zentralen Versprechen der Befürworterinnen und Befürworter des Austritts war, die Zahl der europäischen Arbeitskräfte zu reduzieren. Nun werden diese Ansagen nicht mehr so genau genommen und 5000 kurzfristige Visa für Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer aus der EU in Aussicht gestellt. Das indirekte Eingestehen der Abhängigkeit von Europa galt vielen Tories als Dorn im Auge, insbesondere mit Blick auf den Parteitag im Oktober. Die makroökonomischen Auswirkungen des Brexits sind tiefgreifend; doch als Politikwissenschafter faszinieren einen primär die politischen Verrenkungen, um den Esprit des Brexits aufrechtzuerhalten.

Neuer Hurrapatriotismus

Um sowohl die innerbritische Moral hinsichtlich interner Unabhängigkeitstendenzen zu heben als auch den Brexit als Erfolg zu verkaufen, scheint die Regierung auf einen aufoktroyierten britischen Oberflächlichkeitsnationalismus zu setzen. Dieser nimmt bisweilen skurrile Züge an, welche bis vor fünf Jahren noch als zutiefst "unbritisch" gegolten hätten: Union Jacks sollen auf allen öffentlichen Gebäuden weithin sichtbarer werden, selbst in den Wohnzimmern der Minister sollten diese drapiert werden, worüber sich sogar einige BBC-Moderatorinnen und -Moderatoren live auf Sendung amüsierten. Deren Chef wurde in einem parlamentarischen Ausschuss sogar gefragt, warum der BBC-Jahresbericht keine einzige Flagge vorwiese und welche Gegenmaßnahmen er setzen wolle.

Hurrapatriotische Spitzen von Boris Johnson gegen EU-Partner werden als außenpolitische Beherztheit bejubelt, während imperiale Maßeinheiten metrische ersetzen. Wer noch kein neues Autokennzeichen hat, aber immerhin Treibstoff, muss bei Auslandsfahrten auf seinem Automobil neuerdings gesetzlich einen "UK"-Aufkleber anbringen. "Global Britain" war gestern, diese Woche kündigte Johnson mit der Entsendung eines Satelliten ins All gar "Galactic Britain" an. Selbst die Meerestiere könnten sich nun "glücklicher schätzen", endlich wieder "britisch" zu sein, jubelte der Konservative Jacob Rees-Mogg. Frühere Remainer im Kabinett gerieren sich als bekehrte Brexiteers, etwa Außenministerin Liz Truss, die kürzlich sagte, man müsse den Austritt und dessen Möglichkeiten einfach "begeistert annehmen".

Ambition und Wirklichkeit

All diese Entwicklungen bestechen durch ihre ideologische Beseeltheit, Großbritanniens Status als gewichtige globale Macht zu projizieren. Mitunter schwingen ominöse Zwischentöne durch: 2017 wollte der Pro-Brexit-Parlamentarier Chris Heaton-Harris von sämtlichen Universitäten umfängliche Listen mit Informationen zu Lehrkräften, welche zu EU und Brexit lehrten. Seine Anfrage wurde von den Universitäten entrüstet zurückgewiesen und gar mit den Diffamierungen in der McCarthy-Ära gleichgesetzt. Oder gerade erst letztes Wochenende, als ranghohe Stimmen aus der Regierung einen Vertreter der Spediteursvereinigung beschuldigten, ein "jammernder Remainer" zu sein, der für "diese Panik und das Chaos" an den leeren Zapfsäulen hauptverantwortlich sei. "Wir werden uns um ihn kümmern, sobald (das) vorbei ist", hieß es drohend im Mail Online-Interview.

Es scheint, als werde der sprichwörtliche "Kuchen", den Johnson durch den Brexit "behalten" sowie "verspeisen" wollte, zu einem unhaltbaren Dilemma zwischen Ambition und Wirklichkeit: Niemand in der Regierung bringt den Brexit in Verbindung mit den derzeitigen Problemen, was eine sachliche Debatte völlig verunmöglicht. Die Labour-Partei, bestrebt, ehemalige Klientel aus den Brexit-Hochburgen zurückzugewinnen, tut sich ebenfalls schwer, das "B-Wort" auszusprechen. Die angekündigten befristeten Arbeitsvisa werden als eine Art allererstes Eingeständnis der Johnson-Regierung bewertet, dass der Brexit doch mit Einbußen verbunden sein könnte, weswegen man sich so lange gegen einen solchen Umschwung wehrte.

Innenpolitischer Feuerlauf

Wie geht es nun weiter? Viele Schwierigkeiten werden schleichend akut und potenzieren sich in ihrem Ausmaß in der Covid-Pandemie geradezu. Man weiß nie, wo das Brexit-Roulette als Nächstes zuschlagen wird, seien es nun die gefürchteten Engpässe, etwa bei Grippeimpfstoffen oder bei der Sicherstellung des Weihnachtstruthahnbratens. Es gibt vereinzelt Stimmen unter Liberalen und Labour-Mitgliedern, die für eine Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum plädieren – also halb in der EU, halb draußen. Doch weder sind diese laut genug, noch scheinen die wenigsten Brexiteers, die auf einen "sauberen Schnitt" mit dem Kontinent gedrängt hatten, dafür empfänglich.

Im Grunde müssen die Konservativen einen innenpolitischen Feuerlauf absolvieren. Nicht der Brexit sei schuld, vielmehr alles andere: Covid, die EU, die Remainers, der fehlende Glaube an Großbritanniens Größe. Johnsons Brexit-Kuchen avanciert hierbei zu Schrödingers Kuchen: Die einhergehenden Probleme sind gleichsam da und auch nicht – das Zurückrudern in der Visafrage suggeriert, dass der Brexit diese Probleme mitverursacht hat, gleichwohl die Regierung diese aber abstreitet. Sie bietet eine Lösung für ein Problem, dessen Existenz sie leugnet. So lässt sich die gefürchtete 180-Grad-Drehung wirbelnd vollziehen und das Land, das taumelt mit. Zumindest Kuchenengpässe wurden bislang nicht gemeldet. (Jakob A. Lundwall, 1.10.2021)