Bewohner Sarajevos räumen die Trümmer ihrer Stadt auf.

Foto: Imago / Koall

Mit der Einkesselung Sarajevos durch die serbische Armee begann im April 1992 der zermürbendste Abschnitt im jugoslawischen Zerfallskrieg. Die Welt hatte weggesehen – die Menschen in der multiethnischen Stadt blieben auf sich allein gestellt, ein langer Rückzug aufs Innere begann. Damals, schreibt der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan, wurde er zum Melancholiker.

Karahasan, der als Dozent für Dramaturgie an der Universität Sarajevo lehrte, hatte 1993 über die Situation in der Stadt zu schreiben begonnen, das Tagebuch der Übersiedlung erschien noch im selben Jahr im Wieser-Verlag in Klagenfurt. Zu dieser Zeit war Karahasan bereits aus Sarajevo geflohen. Aber der Konflikt, den der Autor metaphorisch mit "Übersiedlung" umschreibt, lebte in all den Jahren danach weiter.

Die jetzige Ausgabe im Suhrkamp-Verlag basiert nicht nur auf einer Neuübersetzung, sie enthält auch später entstandene Texte, die die Erfahrung um den Verlust des alten Sarajevo abrunden, sowie ein Gespräch mit dem Autor, in dem er auch die Entwicklungen nach der Befreiung bedauert, als kaum Hoffnung aufkeimte, als hätte sich die Trauer in den Ruinen festgesetzt.

Die Identität der Stadt

Stattdessen verändert der Tourismus heute das Wesen der Stadt, und Neureiche bevölkern jetzt jene Viertel, in denen einst die Ärmsten wohnten. All das bedeute den "Verlust einer Eigenheit", der den Autor am meisten trifft, denn Sarajevo, dieser in sich gekehrte Mikrokosmos, zugleich "Zentrum der Welt", war eine "Wunderstadt", deren größter Wert ihre Diversität war.

Vier Jahre wurde Sarajevo belagert, die Bevölkerung war von der Wasser- und Energieversorgung abgeschnitten, keine Lebensmittel, keine Medikamente wurden in die Stadt gelassen, mit dem Ziel, sie in den "stillen Tod" zu treiben.

Aber die Zerstörung zielte nicht nur auf die Bewohner ab, sie richtete sich gegen die Identität der Stadt und ihren kulturellen Wert, die Vielheit. Schließlich haben hier vier Nationen und Religionen friedlich und einander befruchtend gelebt. Einst wurde in Sarajevo auch Türkisch, Arabisch, Persisch, Deutsch und Italienisch gesprochen. Es war die Gegensätzlichkeit, die verband.

Kulturelle Zerstörung

Den Anfang dieser auch kulturellen Zerstörung haben der bosnische Autor und seine serbische Frau hautnah miterlebt: Eines Tages schlägt auch in ihre Wohnung eine Granate ein, sie zerstört den Bücherschrank: Gottfried Keller, Nadeschda Mandelstam, William Faulkner … Erst im Nachhinein wird ihnen bewusst, dass es auch sie getroffen hätte, wären sie in der Wohnung gewesen.

Karahasans Texte entstanden als unmittelbare Reaktionen, sie wurden meist zwei Tage nach den jeweiligen Ereignissen geschrieben, von denen sie berichten. Dennoch haben sie nicht die Form des Tagebuchs, vielmehr sind es essayistische Erzählungen, die den Alltag als Ausnahmesituation beschreiben: wie es ist, wenn neben einem plötzlich ein Mensch stirbt; wenn ein französischer Reporter von einem erwartet, dass man leide; wenn man erleben muss, wie mit der Nationalbibliothek bewusst ein symbolischer Wert dieser Stadt zerstört wird.

Übersiedlung ins Gedächtnis

Vieles in dem Vernichtungswerk ist symbolgeladen, etwa dass die Scharfschützen der Jugoslawischen Volksarmee vom jüdischen Friedhof aus die Bewohner unter Beschuss nahmen. Die Angriffe begannen in dem Jahr, als die sephardische Gemeinde den 500. Jahrestag ihrer Vertreibung aus Spanien und der Ankunft in Sarajevo feierte … Nun stand abermals ein Exodus bevor: Bis auf ein Dutzend "in ihr Heim und ihre Stadt vernarrter Juden" zog die gesamte Gemeinde aus Sarajevo fort. Damit ging ein halbes Jahrtausend gemeinsamer Kultur zu Ende.

Auch das meint "Übersiedlung" – nicht an einen anderen Ort, sondern die Übersiedlung "ins Gedächtnis". Dabei geht es um nichts weniger als die Verantwortung der Literatur, den unerschütterlichen Glauben an ihre Funktion als "hohe Schule des Lebens".

An einem Oktobervormittag macht sich Karahasan auf zur Gründungsversammlung des PEN-Zentrums Bosnien und Herzegowina. Eigentlich sind es nur 500 Meter zum Hotel, wo sich der Schriftstellerverband trifft, doch genau diese Strecke nehmen Scharfschützen ins Visier. Von überall sind Detonationen zu hören, Granateneinschläge, die immer näher kommen.

Unbeirrbar

Karahasan scheint unbeirrbar: Die Gründung eines PEN-Zentrums, sagt er sich, sei wichtiger als das Schreiben von guter Literatur. Aber die Gründung muss dann doch ohne ihn stattfinden, die immer bedrohlicher werdende Situation zwingt ihn in den nächsten Luftschutzkeller.

1993 verließ auch Karahasan die Stadt, als ihn eine Einladung zum Literaturfestival in Rauris erreichte, mit einer Maschine der Unprofor wurde er ausgeflogen. Später wurde er Gastdozent an verschiedenen europäischen Universitäten, seine Herkunft erklärte er mit dem Satz "Ich komme aus einem zerstörten Land".

Doch anders als die Figuren seiner Romane und Erzählungen, die das Exil nicht mehr loswurden, kehrte er 1996 in seine Heimatstadt zurück. Viele seiner Freunde konnte er allerdings nur noch auf dem Friedhof treffen. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 2.10.2021)