Die Tänzerinnen und Tänzer machen diesen Abend ebenso zum Erlebnis wie Musik und Bühne.

Foto: Ashley Taylor

Dieses Design strahlt Perfektion aus: Links und rechts vor der Bühne stellt sich in bester Symmetrie ein Chor auf und singt hinreißend Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms. Dazu zeigt Martin Schläpfer, Leiter des Wiener Staatsballetts, ein brillant getanztes Ballett, dessen Wien-Premiere am Donnerstag in der Volksoper zum Erfolg auf ganzer Linie wurde. Eine präzise Bühnenarchitektur (Florian Etti) vermittelt kühlen Modernismus, die schwarzen Kostüme (Catherine Voeffray) und akkuraten Frisuren vor allem der Tänzerinnen sind ein Spiel mit postmoderner Dekonstruktion. Thomas Dieks Licht setzt die Szenen in eine zwischen Scharfzeichnung und Dämmerung wechselnde Atmosphäre.

Psychogramm der Gesellschaft

Beim biblischen Text des Requiems könnten sich manchen Atheisten erst einmal die Haare aufstellen, denn für sie klingen tröstlich gemeinte Sätze wie "Des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit" wie eine Drohung. Trotzdem wunderbar, welches Klangerlebnis der erweiterte Chor der Volksoper zusammen mit dem Orchester des Hauses unter der Leitung von Christoph Altstaedt zu zaubern imstande ist.

Außerdem zeichnet Schläpfers extrem detaillierte Choreografie entlang des in seiner heutigen Fassung 1869 uraufgeführten Brahms-Werks ein Psychogramm der europäischen Gesellschaft von heute. Es geht um eine Gesellschaft, die heute von ihrer Ästhetisierung von allem, auch des Körpers, nicht genug bekommen kann. In diese Zwanghaftigkeit unserer Design-Public-Relations kann gerade das Ballett mit seinen zugespitzten Reflexionen über das Perfekte und dessen Fragilität besonders tief eindringen. Die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts machen dies zum Erlebnis.

Aus der Hybris des Stylingkults schält Schläpfer unzählige Manöver heraus, die es braucht, um durch das Leben unter diesem Attraktivitätsdruck zu kommen: Die Selbstbeherrschung, die nötig ist, um dessen Fallen zu umtanzen; gespieltes Teamwork; die vorgegaukelte Lockerheit und das Ringen um permanente Verdrängung. Frauen lassen sich an diesem Abend von Männern durch die Gegend schleppen, Männer üben Imponierbocksprünge.

Risse in der Psyche

Bei aller Mühe um Anpassung wird dann doch um etwas Persönliches gerungen. Das erzeugt Risse in der Psyche: Eine Ballerina trägt einen Spitzenschuh auf dem rechten Fuß und auf dem linken gar nichts. Hier geht es ums Überleben in einem Umfeld, in dem sich niemand mehr ausziehen muss, um nackt dazustehen. Wir werden ohnehin permanent durchleuchtet. Im Lauf des Stücks verblasst die fromme Ideologie des Requiemtexts und verwandelt sich in eine Metapher für Gedanken- und Gefühlskontrolle.

Schläpfer erspart seinem Auditorium künstlerischen Narzissmus und didaktische Arroganz. Stattdessen folgt man staunend einer Virtuosität des gemeinsamen – und dabei einsamen – Tanzes durch die Existenz. So lässt sich aus Ein deutsches Requiem die Idee filtern, dass die Meisterschaft der Lebensbewältigung im Zurücklegen eines vernebelten, verschlungenen eigenen Weges liegt. Bei aller künstlerischen Qualität ist diese inhaltliche Offenheit ein Bonus. (Helmut Ploebst, 2.10.2021)