Es ist ein sonniger Herbsttag an der Washington Mall, jener weitflächigen Parkanlage, die das US-Kapitol, das Weiße Haus sowie zahlreiche weitere Wahrzeichen der Stadt miteinander verbindet. Suzanne Firstenberg hat sich verspätet. Eine Besucherin, die extra aus Chicago angereist war, konnte die Flagge ihres verstorbenen Vaters nicht finden.

Eine Windböe lässt die zigtausenden Fahnen im Schatten des Washington Monument, des gigantischen Obelisks, für einen Moment lang aufflattern. Dann ist es wieder still. Die 62-jährige Künstlerin nimmt Platz auf einer Bank und blickt in die Ferne. "Jede Fahne ein Menschenleben", sagt sie leise mit erstickter Stimme.

Suzanne Firstenberg arbeitete in der Pharmaindustrie und im US-Senat. Daneben war sie 25 Jahre ehrenamtlich als Sterbehelferin im Hospiz tätig, bevor sie sich der Kunst zuwandte.
Richard Gutjahr

Als die 62-jährige Künstlerin vor über einem Jahr die ersten Fahnen für ihre Freilichtinstallation bestellte, zählten die USA gerade 200.000 Corona-Opfer. Wenn die Kunstaktion "In America: Remember" am 3. Oktober zu Ende geht, werden rund 700.000 Fahnen zusammengekommen sein.

STANDARD: Sie haben in der Pharmaindustrie gearbeitet, im US-Senat, daneben waren Sie 25 Jahre ehrenamtlich als Sterbehelferin im Hospiz tätig. Wie kamen Sie zur Kunst?

Firstenberg: Das war Zufall. Als ich meinen ersten Kunstkurs belegte, gelang mir am Anfang gar nichts. Ich saß in diesem Keramikworkshop und sah den anderen Teilnehmern dabei zu, wie diese wunderschöne Objekte aus Ton formten. Es dauerte Wochen, bis ich die Büste einer nachdenklichen Frau geschaffen hatte. Beim Anblick dieser Figur dachte ich mir, ich hätte vielleicht doch Künstlerin werden sollen. Also lernte ich zu malen und zu zeichnen. Ich lernte, Ton zu modellieren und Stein zu schnitzen. Ich lernte, Metall zu gießen und zu schweißen. Ich habe gelernt, wie man Eis mit einer Kettensäge fräst. Und heute erlauben mir all diese Materialien, Empathie zu formen.

STANDARD: Diese Fahneninstallation ist anders, gewaltiger als alles, was Sie bislang gemacht haben. Allein die Logistik – wie haben Sie das geschafft?

Firstenberg: Mit einem neuen Medium zu arbeiten und dann noch unter diesen erschwerten Corona-Bedingungen, hat mir Angst eingeflößt, aber auch Mut gemacht. Ich glaube, dass Erfahrungen, die man sammelt, einem dabei helfen, größere Erfahrungen zu machen. Herausforderungen sind wichtig im Leben. Und dieses Projekt hat mich wirklich herausgefordert. Und irgendwie hat es mich auch furchtlos gemacht.

STANDARD: Und jetzt sitzen Sie hier im Zentrum der Macht, umgeben von einem Meer aus weißen Flaggen. Wie kamen Sie auf die Idee?

Firstenberg: Meine Arbeit im Hospiz hat mich gelehrt, dass das Größte, was wir Menschen geben können, ihre Würde ist. Die Todesfälle hier in den Vereinigten Staaten nahmen irgendwann dermaßen rasant zu, dass jeder Tote nur noch eine Zahl war, Menschen auf eine Ziffer reduziert wurden.

STANDARD: Getreu dem Motto: Ein Toter ist tragisch, eine Million Tote sind Statistik?

Firstenberg: Das konnten wir doch nicht zulassen. Wir mussten uns daran erinnern, dass jeder Tod, jeder Verlust uns alle schwächt. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass Amerika das großartigste Land der Erde ist. Sehen Sie sich um! Diese weißen Flaggen hier sind Flaggen der Kapitulation. Es reicht. Wir haben genug Tod. Wir haben genug Spaltung. Wir haben genug Egoismus. Wenn uns dieser Anblick etwas sagt, dann das, dass wir uns ändern müssen.

STANDARD: Sie waren sauer auf Ihr Land?

Firstenberg: Es war im März 2020, ganz am Anfang der Pandemie, als wir alle im Lockdown saßen. Da sagte ein Politiker in Texas sinngemäß, dass die Alten bereit sein sollten, für den Dow Jones zu sterben. Dieser Politiker schlug allen Ernstes vor, dass ältere Menschen bereit sein sollten, das Risiko einer Infektion einzugehen, damit wir die Wirtschaft am Laufen halten können. Das war für mich ein Affront. Nicht nur, weil ich 25 Jahre ehrenamtlich Hospizarbeit geleistet habe. Als dann später bekannt wurde, dass ärmere und dunkelhäutige Menschen überproportional von der Pandemie betroffen waren, und als unser Regierungschef dann auch noch sagte: Genug mit der Pandemie, er möchte ein Cheerleader für die Wirtschaft sein – das kam mir wie purer Rassismus vor. Als bildende Künstlerin wusste ich, dass ich etwas tun musste. Also fing ich an, das Konzept für diese Installation zu entwerfen.

Erinnerung an den US-Soldatenfriedhof in Arlington: der Rasen vor dem Weißen Haus.
Richard Gutjahr

STANDARD: Wieso Flaggen und nicht Kreuze oder Gedenksteine?

Firstenberg: Nun, als bildende Künstlerin wusste ich, dass ich etwas kaufen oder erstellen musste, um jede einzelne Person zu repräsentieren. Aber ich konnte mir nicht viel leisten. Und so musste ich einen Gegenstand finden, der genug Referenzen aufwies, um eine Person, ein menschliches Leben darzustellen. Etwas, das ich mir leisten konnte, waren weiße Markierungsfahnen. Warum weiß? Weil das so schön und so engelhaft aussieht. Weiß ist für uns die Farbe der Reinheit und Unschuld. Und weiße Fahnen können beschriftet werden. So war mir schnell klar, dass es weiße Fahnen sein mussten.

STANDARD: Eine Referenz an den berühmten Soldatenfriedhof von Arlington?

Firstenberg: Durchaus. Deshalb sind die Fahnen auch in einzelnen Abschnitten angeordnet. In Arlington begraben wir diejenigen, die uns beschützt haben. Und hier ehren wir diejenigen, die wir nicht beschützen und nicht retten konnten.

STANDARD: Sie hatten anfangs nur wenige Kisten mit ein paar Tausend Flaggen bestellt. Wie ging es dann weiter?

Firstenberg: Ich habe die Flaggen im Juni bestellt. Sie wurden speziell für diese Installation aus einer leicht recycelbaren Folie gefertigt, das war mir wichtig. Sie sollten glatt sein, um in der Sonne zu glänzen, aber auch matt genug, um die Namen draufschreiben zu können. Eine Spezialanfertigung.

STANDARD: Wie viele Fahnen sind es am Ende geworden?

Firstenberg: Insgesamt bestellte ich 630.000 Stück. Bis vor kurzem dachte ich, das müsste reichen, damit käme ich hin. Aber ich musste immer wieder nachbestellen. Schauen Sie sich das an: Gestern waren es 690.000. Heute sind es 693.000 Menschen! Und denken Sie an all die medizinischen Fachkräfte, die versucht haben, jede einzelne Person zu retten. Wenn ich auf dieses riesige Feld von Flaggen schaue und darüber nachdenke, was dies mit unserem Gesundheitssystem gemacht hat, bin ich erstaunt, dass wir überhaupt noch eine Gesundheitsversorgung haben. Es ist erschreckend.

STANDARD: Anfang des Jahres stürmte ein wütender Mob das Kapitol nicht weit von hier. Es gab Tote und unzählige Verletzte. Woher kommt dieser Hass?

Firstenberg: Die Leute werden meine Installation ein Covid-Denkmal nennen. In Wirklichkeit ist es die physische Manifestation einer kranken Gesellschaft. Es ist der zugrunde liegende Rassismus und die zugrunde liegende Selfie-Mentalität, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Diese gesellschaftliche Spaltung hat uns auf so vielen Arten geschadet. Wenn man an unsere Gesellschaft denkt und daran, wie gespalten wir sind, wenn wir uns nicht einmal gegenseitig beschützen können, das Leben des anderen: Das ist ein Symptom für etwas, das geheilt werden muss.

STANDARD: Sie haben Verständnis für Menschen, die Corona für Quatsch halten?

Firstenberg: Die Medien stellen Fragen wie: Sind Sie nicht wütend über Leute, die sich gegen eine Impfung entscheiden? Die eigentliche Frage sollte lauten: Welche Angst liegt dieser Weigerung zugrunde, etwas zu tun, das dem Gemeinwohl dient? Welche Angst bringt Menschen dazu, solch unsoziales Verhalten an den Tag zu legen? Wir müssen herausfinden, was unter der Oberfläche liegt.

STANDARD: Haben Sie eine Antwort darauf?

Firstenberg: Einige Soziologen glauben, dass es eine Angst vor dem Verlust des eigenen Platzes in der Welt sei, eine Angst vor Veränderungen. Überlegen Sie mal: Dieser gigantische technische Fortschritt der letzten Jahre hat den gesellschaftlichen Wandel beschleunigt. Für manche Leute ist das einfach zu viel. Ich glaube, es war die Schweiz, die gerade erst dafür gestimmt hat, die Homo-Ehe zu akzeptieren. Gesellschaftlicher Wandel ist anstrengend, für manche Leute überwältigend. Deshalb wollen die Leute hier in Amerika an etwas festhalten und beginnen damit, zu fantasieren.

STANDARD: Sind Sie hier schon mit Impfgegnern aneinandergeraten?

Firstenberg: Vielleicht mit einer Handvoll Leute. Ich erinnere mich an eine Frau, die zu mir kam und verlangte, ich müsse eine Fahne entfernen, und zwar die Fahne ihrer Mutter. Diese sei nicht an Covid, sondern an einem Herzinfarkt gestorben. Aber anstatt über Flaggen oder über Covid zu sprechen, sagte ich zu ihr: "Sie haben Schmerzen. Lassen Sie uns an einen ruhigen Ort gehen und über Ihren Schmerz sprechen." Ich sah ihr in die Augen, und wir sprachen über den Verlust ihrer Mutter und wie sehr sie ihre Mutter vermisste. Sie zog dann schließlich wieder ab.

STANDARD: Ist die Gedenkfahne für die Mutter noch hier?

Firstenberg: Oh ja. Sie repräsentiert den Schmerz dieser Frau. Sie hat ihre Mutter verloren! Ich werde den Blick ihrer Augen einfach nie vergessen. Ihre Augen waren wunderschön. Wie blaues, grünes Wasser, Meerwasser. Und nur in die Tiefen dieser Augen zu schauen und diesen Schmerz zu sehen: Ich konnte ihr nicht böse sein.

STANDARD: Wie kann man die Wunden einer Gesellschaft heilen?

Firstenberg: Wir brauchen positive Beispiele für Fürsorge. Jedes Mal, wenn die Medien eine Geschichte schreiben, dass jemand im Supermarkt auf jemanden spuckt oder sich Menschen im Flugzeug prügeln, weil manche keine Maske tragen wollen, wird dieses Verhalten normalisiert. Es scheint, als wäre es in Ordnung. Was wir normalisieren müssen, ist Fürsorge. Füreinander zu sorgen. Mehr die Momente zeigen, in denen ein Fremder einem Mitmenschen hilft. Es ist Zeit, etwas zu ändern. Wir alle müssen uns ändern. (Richard Gutjahr, 2.10.2021)