Das Projekt ist auch Dokument einer offeneren und gereiften Herangehensweise an österreichische NS-Geschichte, sagt Hannah M. Lessing vom Nationalfonds im Gastkommentar.

"Entfernung. Österreich und Auschwitz": So heißt die neue Österreich-Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, die am 4. Oktober 2021 feierlich eröffnet wird. Damit kommt ein wichtiges Projekt zum Abschluss, das wir in den letzten Jahren mit dem Nationalfonds durchführen durften und das mich auch persönlich sehr berührt.

"Auschwitz ist Teil meiner Familiengeschichte."

Als ich 1995 als Generalsekretärin des Nationalfonds bestellt wurde, hatte ich das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau noch nie besucht. Wie so viele Kinder aus Opferfamilien war ich aufgewachsen im Schweigen über die Vergangenheit. Spät erst erfuhr ich vom Schicksal meiner Großmutter Margit Lessing – dass sie am 26. Oktober 1944 mit einem der letzten Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und wahrscheinlich gleich nach der Ankunft ins Gas geschickt wurde. Seither weiß ich: Auschwitz ist auch Teil meiner Familiengeschichte.

Block 17. Die Gedenkfeier wird am Montag ab 14.30 Uhr im Fernsehen (ORF 2) sowie auf der Parlamentswebsite übertragen.
Foto: Parlamentsdirektion / Ulrike Wieser

Mythos vom "ersten Opfer"

2005 besuchte ich erstmals die österreichische Ausstellung in Block 17. Im Eingangsbereich empfingen mich die Worte "11. März 1938: Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus", grafisch symbolisiert durch das Bild der über Österreich hinwegmarschierenden Wehrmachtstiefel.

Die 1978 eröffnete Ausstellung, entstanden unter Mitwirkung von Überlebenden, war ein Kind ihrer Zeit. Sie war gestaltet entsprechend dem damals vorherrschenden historischen Selbstverständnis Österreichs als "erstes Opfer" Hitlers – die Rolle der österreichischen Täterinnen und Täter wurde nicht thematisiert.

Der Entwurf für das Krematorium – heute ein Ausstellungsobjekt.
Foto: Parlamentsdirektion / Ulrike Wieser

Neues Selbstverständnis

Meinen ersten Besuch empfand ich als eine Zeitreise: Während sich in Österreich seit Bundeskanzler Franz Vranitzkys Bekenntnis zur historischen Mitverantwortung 1991 das Geschichtsbild weiterentwickelt hatte, schien in Auschwitz die Zeit stehengeblieben: Die österreichische Ausstellung war weit entfernt vom gewandelten Selbstverständnis des modernen Österreich.

2005 wurde im Eingangsbereich vorläufig ein Banner angebracht, das auf die veränderte Sichtweise Österreichs auf seine NS-Vergangenheit hinwies.

Die neue Ausstellung, deren Gestaltung ebenso wie die Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes durch den Nationalfonds koordiniert wurde, entstand in engem Zusammenwirken vieler Beteiligter: Ein gesellschaftlicher Beirat unter dem Vorsitz von Herta Neiß gewährleistete die Wahrung der Anliegen betroffener gesellschaftspolitischer Gruppen – Opferverbände, Religionsgemeinschaften, Gedenkdienstorganisationen, Interessenvertretungen, Bundesministerien und Parlamentsparteien. Ein wissenschaftlicher Beirat unter der Leitung von Brigitte Halbmayr stellte sicher, dass die Neugestaltung höchsten wissenschaftlichen Standards entspricht.

"Diese Geschichte wirkt nach, niemand ist unbeteiligt. Doch es geht nicht mehr um Schuld, sondern um Verantwortung."

Die vom wissenschaftlich-kuratorischen Team um Hannes Sulzenbacher und Albert Lichtblau sowie Architekt Martin Kohlbauer geschaffene neue Ausstellung erzählt vom "Hier" der Opfer in Auschwitz, vom Widerstand, und sie spart auch die österreichischen Täter und Täterinnen nicht aus. Sie erzählt vom "Dort" in der zurückgelassenen Heimat Österreich. Und sie erzählt von der "Leere" – einer Leere, die für mich die Verlorenheit der Opfer von Auschwitz greifbar macht. Es war eine Herausforderung, ein derart vielschichtiges und historisch sensibles Projekt unter Einbeziehung so vieler Projektbeteiligter und unterschiedlicher Interessenlagen in Österreich und Polen umzusetzen.

"Entfernung. Österreich und Auschwitz" ist Dokument einer offeneren und gereiften Herangehensweise an österreichische NS-Geschichte: Jahrzehnte nach Kriegsende können wir anerkennen, dass der Nationalsozialismus die Gesellschaft durchdrungen und nachhaltig geprägt hat. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist, wie Gerhard Botz, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat für die neue Ausstellung, so treffend gesagt hat, "Familiengeschichte". Diese Geschichte wirkt nach, niemand ist unbeteiligt. Doch es geht nicht mehr um Schuld, sondern um Verantwortung.

Mir selbst hat die Arbeit an diesem Projekt auch zu einem tieferen Verständnis für die Grautöne und Widersprüche in meiner eigenen Familiengeschichte verholfen: Auch in meiner eigenen Familie finden sich diese Widersprüche – mein Vater im Exil im britischen Mandat Palästina, meine Mutter im Arbeitsdienst im "Schirachbunker" und Teil des NS-Systems.

Zeitzeugen verstummen

Die Eröffnung der Ausstellung erfolgt in einer Zeit, in der die letzten Überlebenden nach und nach verstummen. Künftig soll diese Ausstellung auch für sie sprechen. Den Besucherinnen und Besuchern kann sie eine differenzierte Sicht auf österreichische Geschichte vermitteln – als Lern- und Gedenkort im 21. Jahrhundert, der das Vermächtnis der Opfer und das Wissen um den Holocaust würdig an die nächsten Generationen weitergeben wird. (Hannah M. Lessing, 3.10.2021)