Jahrelang wurden wir gelehrt, über den Tellerrand zu schauen, tolerant zu sein und für ein Land einzustehen, in dem alle zusammen, gleichberechtigt leben können. Von Teilen der Bevölkerung wurden unter anderem andere Meinungen, diverse Formen des Zusammenlebens und fremde Kulturen als Bereicherung gesehen. Ein ganz neues Gefühl von persönlicher Freiheit in einem kunterbunten Miteinander war zu spüren und die Menschen hatten die Chance aufzublühen, ohne dafür geächtet oder bloßgestellt zu werden. Natürlich gab es auch hier den ein oder anderen, der sich damit schwer tat, die anerzogenen Muster über den Haufen zu werfen und einfach den neuen Rhythmus zu genießen. Aber im Großen und Ganzen bekam jeder die Chance, die Lebensrealität des anderen zu beschnuppern und sich die Teile davon anzueignen, mit denen er sich identifizieren konnte - alles ganz im eigenen Tempo, ohne Druck und ohne Angst.

Populistische Polarisierung

Lediglich auf Politebene war häufig spürbar, dass eine rein argumentative Auseinandersetzung miteinander scheinbar nicht möglich war, beziehungsweise die Kompetenzen des sachlichen Diskutierens, des Zuhörens und des Vermeidens von Angriffigkeiten auf persönlicher Ebene nicht so weit vorhanden waren, wie oftmals vorgegeben wurde. Bemerkbar war dies vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien. Hier wurde und wird die Arena für die politischen Hahnenkämpfe zur Verfügung gestellt und auch die Moderatoren, die zwar kritisch aber nicht parteiisch sein sollten, konnten ihre persönliche Meinung, die dort nichts verloren hat, nicht professionell kaschieren.

Analoge Prozesse können wir nun im Rahmen der Corona-Problematik, die sich in Richtung unendliche Geschichte zu entwickeln droht, wahrnehmen. Die Flüchtlingskrise hat den ersten großen Hinweis dafür geliefert, dass Anerzogenes vielleicht stärker wirkt als Angeeignetes, denn plötzlich wurde die Meinungsvielfalt zum Problem und es wurde versucht, die Menschen in einfache Kategorien nämlich "Gut" und "Böse" zu stecken. Und anstatt kalmierend zu wirken waren die öffentlich-rechtlichen Medien beim Kategorisieren fleißig vorne mit dabei. Wie es scheint, hat es nun ein Virus geschafft, der schönen neuen Toleranz ganz und gar den Todesstoß zu verpassen. Und anstatt aus den Fehlern gelernt zu haben, wird in TV, Radio und Zeitung fröhlich weiter ins Gesellschaft spaltende Horn geblasen.

Gut oder Böse, auf welcher Seite stehen Sie?
Foto: REUTERS/Gleb Garanich

Demokratie und Toleranz brauchen Reife

Nun ist es aber so, dass persönliche Entwicklung stets nur im eigenen Tempo möglich ist und man sich nicht von sich selbst abstrahieren kann. Pädagogisch und therapeutisch gesehen ist es hier wenig intelligent, wenn die Medien geplant oder nicht in laienhafter Form eine Art von Beeinflussung vornehmen wollen. Die Verbindung zu den MKULTRA-Versuchen der CIA, wie man sie im verschwörungstheoretischen Kontext sehen könnte, ist zwar bei Weitem nicht gegeben, aber Gustave Le Bon und seine Psychologie der Massen sowie Edward Bernays lassen in mehr oder minder dilettantischer Ausprägung unterschwellig grüßen. Le Bons Werk beschäftigt sich mit den Themenkomplexen Konformität und Entfremdung. Jener vertritt die Ansicht, dass das Individuum unter bestimmten Rahmenbedingungen in der Masse seine Kritikfähigkeit verliert. Ähnlichkeiten zu aktuellen Phänomenen sind rein zufällig. Die These gilt aber für beide Seiten, jene “der Wissenschaft“ sowie die der Verschwörungstheoretiker, die voll und ganz in ihrer Gemeinschaftsseele aufgehen.

Wer oder was ist die Wissenschaft?

Dass das berühmte Fingerzeigen auf den, der eine andere Meinung vertritt, schon in der Schule nichts gebracht hat, dürfte allgemein bekannt sein. Bereits damals hat Druck nur Gegendruck bewirkt und wie man weiß, können Menschen unter Stress wesentlich schlechter lernen und treffen für sich selbst öfter nachteilige Entscheidungen, als in einer sicheren, verständnisvollen Umgebung. Etwas zu hinterfragen, so hat man aktuell bei heiklen Themen den Eindruck, ist anscheinend nicht wissenschaftlich. Da stellt sich nur die Frage wer oder was ist die Wissenschaft und wer definiert das? Aber wahrscheinlich ist diese Frage in Zeiten, in denen wir glauben, alles zu wissen, schon unwissenschaftlich.

In diesem Rahmen sollten wir darüber reflektieren, in welcher Gesellschaft wir leben möchten. Man mag sich gar nicht vorstellen, dass all das anfangs Geschilderte keine echte Entwicklung war, sondern nur eine aufgesetzte Maske. Oder dass all jene, die sich stets als Vorbilder für Toleranz inszeniert haben, doch nur Wölfe im Schafspelz waren, die weit weniger verstanden haben, als ihre Bewunderer. Der verstorbene Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, brachte es in seiner Analyse, wonach sinngemäß zwischen der Berühmtheit mancher Zeitgenossen und der Dummheit ihrer Bewunderer ein höchst signifikanter positiver Zusammenhang besteht, um es zum Abschluss ganz wissenschaftlich zu artikulieren, auf den Punkt. (Daniel Witzeling, 14.10.2021)

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