Eine generelle Impfpflicht würde überzeugte Impfgegner nicht zur Impfung bringen und zögerliche Menschen eher abschrecken, meint die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack im Gastkommentar.

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Sitzen wir tatsächlich alle im selben Boot? Wenn man die ungerechte Verteilung der Covid-Impfstoffe weltweit betrachtet, muss man sagen: Nein!
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Seit dem Beginn der Pandemie ist kaum ein Wort häufiger zu hören als Solidarität. Das Virus diskriminiere nicht; wir säßen alle im selben Boot.

So ist es aber nicht. Zwar ist die Pandemie ein Ereignis, das wir alle gleichzeitig erleben – aber gleichzeitig bedeutet nicht gemeinsam. Die Pandemie betrifft Menschen sehr unterschiedlich. In fast allen Ländern der Welt hat sie bestehende Ungleichheiten weiter verschärft. Die Unterversorgung mancher Länder mit Impfstoffen hat zudem auch globale Ungleichheiten wachsen lassen. Dass wir zwar im selben Sturm, aber nicht im selben Boot sitzen, ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden. Vor diesem Hintergrund sind das Abmahnen vermeintlich unsolidarischen Verhaltens und die Rufe nach mehr Solidarität nicht ohne Ironie.

Dabei besteht kein Zweifel: Solidarität ist wichtig. Sie ist eine Grundlage unserer Gesellschaft und unseres Wohlstands, der Kitt zwischen den Ziegeln der Gerechtigkeit. Sie ist hierzulande auch in viele Institutionen eingeschrieben, zu denen Menschen beitragen, wie sie können, und Unterstützung erfahren, die sie brauchen. Das öffentliche Gesundheitssystem ist ein Beispiel. Solche Formen institutionalisierter Solidarität sind ein wichtiger Schutz vor Gefahren, die uns individuell – wie Krankheit oder Unfälle –, aber auch als Kollektiv – wie Naturkatastrophen – bedrohen können.

Rhetorischer Ruf

Aber auch die Solidarität von Mensch zu Mensch ist in der Pandemie allen Unkenrufen zum Trotz stark geblieben. Studien zeigen, dass es dem Großteil gar nicht egal ist, wie es anderen geht. Viele unterstützen Nachbarn oder Menschen in Not. Die meisten wünschen sich eine gerechtere Verteilung von Lasten und Pflichten. Solidarität mit arbeitslosen Menschen, um nur eine Gruppe zu nennen, ist in Österreich im Vergleich zu vor der Krise sogar gewachsen. In den meisten Medien findet man dazu nichts: Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen bringen mehr Klicks.

Natürlich werden die Menschen müde. Solidarität droht dort zu brechen, wo sie zu lange als einseitig wahrgenommen wird. Viele sind frustriert, wenn dieselben Politiker, die nach unten nach Solidarität rufen, selbst keine üben. Sie empfinden, dass die Politik sich eher um die Interessen großer Unternehmen als um die Bedürfnisse der Bevölkerung kümmert. Man ärgert sich über die Unfähigkeit, die Schwächsten effektiv zu unterstützen oder die Klimakrise endlich ernsthaft anzugehen. Der rhetorische Ruf nach Zusammenhalt steht im Widerspruch zu den politischen Taten. Einige dieser Faktoren haben wohl auch zum Wahlerfolg der MFG in Oberösterreich beigetragen.

"Eine generelle Impfpflicht würde überzeugte Impfgegner nicht zur Impfung bringen – und zögerliche Menschen eher abschrecken."

Und sie schlagen sich auch beim Thema Impfen nieder. Dabei scheint es so einfach: Wenn wir eine ähnlich hohe Impfquote hätten wie Malta oder Dänemark, dann könnten wir endlich ohne Maßnahmen leben. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass eine allgemeine Impfpflicht oder Spitalsselbstbehalte für Ungeimpfte gefordert werden.

Beides wäre jedoch falsch und wurde trotz gegenteiliger Medienberichte von der Österreichischen Bioethikkommission und ihrer Vorsitzenden auch nie gefordert. Eine generelle Impfpflicht würde überzeugte Impfgegner nicht zur Impfung bringen – und zögerliche Menschen eher abschrecken (solange es nicht hohe Strafen und eine effektive Durchsetzung gibt. Beides ist in einem Land, in dem nicht einmal die Maskenpflicht konsequent durchgesetzt wird, eher unwahrscheinlich). Spitalsselbstbehalte für Ungeimpfte würden nicht nur den Prinzipien unseres Gesundheitssystems entgegenstehen, sondern die Kosten der Pandemie weiter individualisieren.

Die Bestrafung einzelner Impfunwilliger verhärtet die Trennlinien zwischen weltanschaulichen Gruppen. Das dient jenen politischen Kräften, die soziale Kälte predigen oder demokratische Institutionen aushöhlen. Dem Ende der Pandemie bringt sie uns nicht näher.

Entschlossenes Vorgehen

Was es stattdessen braucht: Zuallererst eine bessere Durchsetzung bereits bestehender Regeln, auch der Maskenpflicht. Ein entschlossenes Vorgehen gegen jene, die aus Profit- oder Machtgier Falschinformationen verbreiten. Und strukturelle Impfanreize wie die Ausgabe von Impfterminen für Ungeimpfte (die von Impfunwilligen aktiv abgesagt werden müssen), gepaart mit einer Impfpflicht für Berufe, die engen körperlichen Kontakt mit vulnerablen Gruppen haben.

Mittel- und langfristig braucht es eine Stärkung öffentlicher und sozialer Infrastrukturen: Investitionen in Bildung, Forschung, Gesundheit, und Nachhaltigkeit. Gerade institutionalisierte Solidarität hat in den vergangenen eineinhalb Jahren eine entscheidende Rolle gespielt: Staaten mit stärkeren öffentlichen Infrastrukturen – wie eben einem gut ausgestatteten öffentlich finanzierten Gesundheitssystem, aber auch Formen sozialer Absicherung, die man im Krisenfall nicht erst erfinden muss – sind bisher besser durch die Pandemie gekommen als andere. Zudem haben Menschen in solchen Ländern mehr Vertrauen in öffentliche Institutionen. Auch das fördert die Impfwilligkeit, wie man etwa in Dänemark gesehen hat. Vertrauen ist nicht nur eine Sache transparenter Kommunikation, sondern braucht auch die Erfahrung, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. (Barbara Prainsack, 4.10.2021)